Werte leben in der Kita – welche Werte sind das? Welche Werte machen unser Handeln zukunftsfähig? Und welche Kompetenzen brauchen wir dafür? Um diese Fragen ging es beim letzten Werkstatt-Treffen. Erfahrene Fachexpert*innen aus der Praxis und Beratung kamen zwei Tage lang in Witzenhausen in Hessen zusammen. Es gab inspirierenden Input und spannende Ergebnisse.
Tag 1: Werte leben in der Kita
Am ersten Tag gab es jede Menge Input und Austausch zu den Themen »Werte leben in der Kita« und »Kompetenzen«. Im Zentrum standen dabei die folgenden drei Fragen:
- Welche Werte sind grundlegend für eine (normativ geleitete) pädagogische Praxis der BNE und des Globalen Lernens?
- Wie stehen unsere eigenen Werte (als Person, als Team und als Institution) in Bezug zu unserer pädagogischen Praxis? Inwiefern bin ich / sind wir Vorbilder?
- Welche Materialien und didaktischen Prozesse können pädagogische Fachkräfte bei der Umsetzung einer wert-vollen Bildungspraxis unterstützen?
Den Einstieg bildeten die persönlichen Werte. In der Mitte des Stuhlkreises befanden sich jede Menge Gegenstände. Alle Teilnehmenden waren dazu aufgefordert, sich ein oder zwei der Gegenstände auszuwählen. In der anschließenden Vorstellungsrunde sollten die Menschen nicht nur sich selbst, sondern auch die eigenen Werte – verkörpert durch die ausgewählten Gegenstände – vorstellen. Eine der Referentinnen, Gundula Büker, schrieb die genannten Werte dabei auf und legte sie in einem weiteren Kreis in der Mitte aus. Dies bildete die Basis für den Tag zum Thema »Werte leben in der Kita«.
Impuls 1: Der Paul-Gerhardt-Kindergarten
Danach stellte Kathrin Leuprecht ein wunderbar inspirierendes Praxisbeispiel vor, wie Werte leben in der Kita in der Praxis aussehen kann. Sie ist die Leiterin des Paul-Gerhardt-Kindergartens in Neureut-Nord, Karlsruhe. Über eine Förderung im Rahmen des Gute-Kita-Gesetzes konnte sie ein Werte-Projekt umsetzen, dass die evangelische Kita bis heute prägt – und weit über die Mauern der Einrichtung hinaus in die gesamte Gemeinde wirkt. Ursprünglich stellte sich das Team die Frage »wie können wir unser Profil als Kita stärken?«. Nach und nach stellte sich heraus, dass die (christlichen) Werte dabei eine unglaublich große Rolle spielen. »Christlich« in Klammern, weil sich Kathrin Leuprecht sicher ist, dass bei ihnen der Glaube zwar eine bedeutsame Rolle spielt – dass das Thema »Werte« aber in jeder Kita eine zentrale Rolle spielt.
So entwickelte des Team zunächst einen gemeinsamen Werte-Diamant: also eine Grafik mit acht verschiedenen Werten. In einem sehr gezielten Prozess wählten sie diese gemeinsam aus. Inspirieren ließen sie sich dabei von dem Buch »Werte – warum man sie braucht, obwohl es sie gar nicht gibt« des Schweizer Philosophen Andreas Urs Sommer. Davon ausgehend gestalteten sie jeden Raum der Kita entsprechend eines Wertes und verbanden dies mit einer biblischen Geschichte. Mehr dazu erfahren Sie auch in dem Audio-Interview unter https://kita-global.de/audio-interview-lebendige-werte-in-der-kita/.
Parallel dazu entwickelte das Kita-Team aber auch Aktivitäten und Projekte zu den Werten, wie Müll-Sammel-Spaziergänge oder ein gemeinsam gestaltetes Frühstücksbuffet statt mitgebrachter Snacks. Besonders ist jedoch, dass die Kita weit über ihre Einrichtung hinaus Einfluss auf die Gemeinde nahm. So befragte sie die Einwohnenden von Neureut-Nord nach ihren Werten, entwickelte Plakate dazu, die sie in der Öffentlichkeit ausstellte und initiierte sogar eine ganze Werte-Woche.
An dieser nahmen nicht nur die Kinder und das Kita-Team teil, sondern auch Bewohner*innen und politische Akteur*innen aus Neureut-Nord und dem Kirchenbezirk. Umgekehrt veränderte das Projekt auch die Kita-Struktur nachhaltig. »Wie sollten wir Kindern zum Beispiel den Wert Toleranz vorleben, wenn sie selbst nicht mit entscheiden durften«, so Kathrin Leuprecht. Also sprang das Team über seinen Schatten und ließ die Kinder selbst Dinge entscheiden, bei denen sie nicht ganz sicher war, ob das gut gehen würde. Seit dem können sie zum Beispiel selbst bestimmen, in welchem Raum und an welchem Tisch sie essen möchten. Sie können sich selbst zu essen nehmen und auch einen Schlafplatz auswählen.
Impuls 2: Werte leben in der Kita – der Blick aus Richtung des Globalen Südens
Nach dem Mittagessen lieferten Francisca Gallegos, (BtE-Referentin für Buen Vivir und andere Themen und Projektmitarbeiterin in den KITA-Projekten im EPiZ Reutlingen) sowie Sebastian Boye (BtE-Referent für Biografiearbeit und andere Themen) einen spannenden Impuls. Beide stammen aus Chile und leben seit rund zehn Jahren in Heidelberg, Baden-Württemberg. In ihrer Arbeit bringen sie Kindern und Erwachsenen den Blick auf die Welt aus der Perspektive des Globalen Südens nahe. Werte leben in der Kita ist für sie ein wichtiges Anliegen. Das war in Verbindung mit dem Thema »Werte« an diesem Tag besonders spannend und inspirierend.
Zunächst führte Sebastian Boye die Teilnehmenden über eine Übung aus der Biografie-Arbeit zurück in das erste Jahrsiebt ihres Lebens: Wie war das Leben damals? Wie fühlte es sich an? Wie war es, das erste Mal getrennt von den Eltern zu sein – etwa in der Kita? Welche Menschen waren damals prägend? Und was vermittelte uns damals ein Gefühl von Sicherheit? Diese kleine Gedankenreise ist äußerst hilfreich, um sich bewusst zu machen: Werte, die Erwachsene kleinen Kindern tatsächlich vorleben (und nicht nur predigen), prägen diese höchst wahrscheinlich für ihr ganzes Leben. Werte leben in der Kita ist also entscheidend. Als Erzieher*in in einer Kita gilt das ebenfalls – auch wenn diese natürlich nicht den gleichen Einfluss haben wie zum Beispiel die Eltern oder andere nahe Bezugspersonen.
Die zentrale Frage stellte Sebastian Boye mit: »Was kann ich heute tun, damit Kinder in 20 Jahren die Werte verinnerlicht und die entsprechenden Kompetenzen entwickelt haben, die sie in dieser Zeit brauchen werden?« Angesichts unserer Zeit mit den multiplen, globalen Krisen wie Artensterben, Klimawandel oder Ende der Ressourcen, ist dies eine äußerst bedeutungsvolle – aber auch besonders herausfordernde Frage. Vor allem auch deshalb, weil sich bei uns allen eine Kluft auftut zwischen dem, was wir als Werten haben – und dem, was wir als Werte tatsächlich leben. Dies visualisierte Francisca Gallegos besonders eindrücklich. Zunächst verwies sie auf die Werte, die in solchen und ähnlichen Workshops immer wieder genannt werden. Dazu gehören: Achtsamkeit, Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Dankbarkeit und vieles mehr.
Doch wer sich in unserer Welt umsieht, erkennt schnell, dass wir diese Werte nicht in die Praxis umsetzen – andernfalls gäbe es nicht die globalen, existenziellen Krisen, die unsere sogenannte Zivilisation hervorgerufen hat. Schon immer haben sich Gesellschaften Werte gegeben: Zu sehen etwa an Symbolen wie dem Chakana oder der Wiphala. Die Chakana ist ein Stufenkreuz (auch Andenkreuz genannt), das seit den Inkas aus Bolivien und Peru eine spirituelle Bedeutung hat. Es ist Kalender, Landkarte und Ordnung in einem. Die Wiphala ist das Symbol des Inka-Teilreiches Qullasuyu, mit dem sich die Aymara identifizieren (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge_Boliviens#Die_Wiphala). Ihre Farben stehen für verschiedene Bestandteile der Erde (etwa Weiß für Raum und Zeit, Grün für alles Lebendige, Gelb für die Energie der Sonne, Blau für die geistige Tiefe, das Meer und das Weltall, Orange für alles Menschengemachte, Rot für die Kraft der Erde und Violett für die Gemeinschaft).
Auch heute versuchen sich die Menschen wertegeleitete Ziele zu stecken – etwa in Form der globalen Nachhaltigkeitsziele, der Sustainable Development Goals oder auch SDGs (siehe dazu zum Beispiel auch unser Bericht vom Werkstatt-Treffen 2023, https://kita-global.de/bericht-werkstatt-treffen-17-globale-nachhaltigkeitsziele-in-der-kita/). Doch was ist nun mit der bereits beschrieben Kluft zwischen Theorie und Praxis?
Um sich dem zu nähern, stellte Francisca Gallegos unserer westlichen Kultur die der indigenen Völker gegenüber, denn sie schafften es – im Gegensatz zu uns – über viele Tausende von Jahren im Einklang mit der Natur zu leben. Diese Informationstafel basiert auf den Arbeiten des Philosophen Josef Estermann, der sich seit vielen Jahren mit der Philosophie des Andenraums beschäftigt (https://www.npla.de/thema/politik-gesellschaft/wir-stehen-nicht-im-mittelpunkt-der-welt/). Das folgende Foto zeigt die Gegensätze von westlicher und indigener Andenkultur:
Impuls 3: Unsere Werte gemeinsam wählen und priorisieren
Nach einer Pause lud Gundula Büker, Eine-Welt Fachpromotorin im EPiZ Reutlingen, die Teilnehmenden dazu ein, für sich und in kleinen Gruppen aus dem zu Beginn des Tages gesammelten Werten diejenigen auszuwählen, die für die vier Dimensionen der Nachhaltigkeit in der Praxis besonders wichtig sind:
- Grün: die ökologische Dimension
- Gelb: die ökonomische Dimension
- Blau: die kulturelle Dimension
- Rot: die soziale Dimension
Diese vier Dimensionen lagen in der Mitte des Stuhlkreises als Felder aus. Nach und nach ordneten die Teilnehmenden die Werte, die sie zuvor in einer Gruppenarbeit herauskristallisiert hatten, den jeweiligen Dimensionen zu – oder legten sie dazwischen, wenn sie mehrere Dimensionen betrafen. Auf diese Weise gelangten die allermeisten Karten in die Mitte, ins Zentrum, in den Raum inmitten aller vier Dimensionen. Ein schönes Symbol dafür, dass Werte ein Zentrum sind, wenn es um Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Globales Lernen geht.
Anschließend gruppierten die Teilnehmenden in einem gemeinsamen Prozess die Karten zu Werte-Clustern. Pro Cluster stellte Gundula Büker einen Becher auf. Jede*r Teilnehmer*in erhielt 15 Murmeln in einem Säckchen und konnte jeweils 5, 4, 3, 2 und 1 Murmeln an die Werte verteilen, die ihr oder ihm besonders wichtig sind. Auf diese Weise entstand ein Abbild der Werteprioritäten aller Menschen im Raum.
Anschließend stellte sie die drei zentralen Thesen der brasilianischen Erziehungswissenschaftlerin und Aktivistin Vanessa de Oliveira Andreotti vor:
- Jede Person bringt ihr eigenes wertvolles und berechtigtes Wissen mit, das in einem jeweils eigenen Kontext entstanden ist.
- Alles Wissen ist ausschnitthaft und unvollständig.
- Alles Wissen kann infrage gestellt und hinterfragt werden.
Außerdem präsentierte sie den Beutelsbacher Konsens. Dabei handelt es sich um ein grundlegendes Prinzip für die politische Bildung in Deutschland, das 1976 bei einer Tagung in Beutelsbach formuliert wurde. Er besteht aus drei Hauptgrundsätzen :
- Überwältigungsverbot: Es ist nicht erlaubt, Lernende mit bestimmten politischen Meinungen zu überrumpeln oder zu indoktrinieren. Stattdessen soll die Fähigkeit zur selbstständigen Urteilsbildung gefördert werden.
- Kontroversitätsgebot: Themen, die in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert werden, müssen auch im Unterricht kontrovers dargestellt werden. Verschiedene Standpunkte, Optionen und Alternativen sollen präsentiert werden, um eine einseitige Beeinflussung zu vermeiden.
- Schüler*innenorientierung: Lernende sollen befähigt werden, politische Situationen und ihre eigenen Interessen zu analysieren sowie Wege zu finden, die politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.
Impuls 4: Werte leben in der Kita – mit Hilfe der Inner Development Goals
Der abschließende Impuls kam von Karin Wirnsberger, ebenfalls Bildungsreferentin für Globales Lernen und BNE am EPiZ sowie Koordinatorin der Ideenplattform KITA-Global. Sie zeigte mit den Inner Development Goals (IDG) eine Brücke auf, mit der wir die Kluft zwischen Werten in Theorie und Praxis schließen können. Diese Ziele der »inneren Entwicklung« entstanden, nachdem klar war, dass die Menschheit die 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs) bis 2030 nicht erreichen würde. Ähnlich wie Sebastian Boye und Francisca Gallegos fragte sich eine Gruppe von Expert*innen aus aller Welt, welche Kompetenzen wir Menschen erlernen müssten, um die Ziele und Werte, die wir eigentlich haben, auch tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Oder anders gefragt: Welche Fähigkeiten brauchen wir, um unsere Werte tatsächlich zu leben? Über 2.000 Expert*innen nahmen dazu an einer Online-Umfrage teil.
Heraus kamen dabei fünf Themenbereiche (Sein, Denken, Beziehung, Zusammenarbeit und Handeln) mit jeweils entsprechenden Fähigkeiten, die dafür zentral sind – insgesamt 23 Kompetenzen (Informationen dazu gibt es unter https://innerdevelopmentgoals.org/framework/. Die deutsche Übersetzung findet man weiter unten auf dieser angegebenen Seite). Entscheidend ist für uns die Frage, wie Erzieher*innen in Kitas diese Fähigkeiten erstens selbst entwickeln können – und wie sie diese zweitens in Form von Projekten und Bildungseinheiten an die Kinder weitergeben können. »Ein spannendes Konzept, an dem wir sehr gerne gemeinsam mit anderen Interessierten weiterarbeiten wollen«, meint Karin Wirnsberger. Mit dem Blick auf das Thema »Klimabildung & Co« hat ein Team vom WILA Bonn die IDGs bereits als Methode genutzt und dazu ein Handbuch angefertigt, dass man als PDF herunterladen kann (https://www.wilabonn.de/images/PDFs/Modul-Handbuch-Empowerment-mit-IDGs_final.pdf). Daneben gibt es Trainings und andere Angebote (https://www.wilabonn.de/projekte/1124-empowerment-fuers-klima-mit-den-inner-development-goals.html).
Tag 2: Gruppenarbeit zum Thema »Werte leben in der Kita«
Am zweiten Tag ging es vormittags zunächst zu einem Rundgang durch das Tropengewächshaus in Witzenhausen, dass dank seiner anti-kolonialen Aufarbeitung eine spannende Reise durch die Geschichte von Pflanzen bietet (dazu gibt es einen separaten Beitrag). Danach teilten sich die Teilnehmenden in drei Gruppen auf. Eine arbeitete zum Thema »IDGs«. Eine andere zum Werte-Kanon der Wiphala und was uns diese in der heutigen Kita-Praxis sagen kann. Und eine dritte Gruppe sammelte Ideen für die Praxis, um den Wert »Wertschätzung« mit Kindern umzusetzen. Die Ergebnisse finden Sie auf den folgenden Fotos der Flipcharts:
Fazit: Werte leben in der Kita – das Werkstatt-Treffen 2024 in Witzenhausen
Es ist nicht so leicht überhaupt zu greifen, was Werte sind. Es ist auch nicht leicht, als Team, Organisation oder gar Gesellschaft die gemeinsamen Werte zu definieren. Und noch viel schwieriger ist es, diesen Werten auch dann noch treu zu bleiben, wenn es unpraktisch und nachteilig ist. Wenn die Zeit knapp ist, das Budget oder beides. Wenn es zum Konflikt kommt, Ausgrenzung befürchtet werden muss oder irgend etwas anderes unsere Integrität auf die Probe stellt. Doch eines hat sich an diesem Tag gezeigt: Werte leben in der Kita ist ein wesentliches Fundament von Bildung. Und erst recht von Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) und Globalem Lernen.
Die eigenen Werte zu kennen, erleichtert die Arbeit von Erzieher*innen in Kitas. Es hilft dem Team, sich untereinander auszutauschen und mit Achtsamkeit in eine gemeinsame Richtung zu gehen. Es unterstützt Erzieher*innen dabei, in ihrer Bildungsarbeit und im Umgang mit den Kindern klar zu wissen, worauf es ankommt und was tatsächlich wesentlich ist. Und es erleichtert es ihnen, den Eltern gegenüber transparent und nachvollziehbar zu sein. Es hilft, andere einzuladen, Teil zu werden – und gegebenenfalls auch angemessen Grenzen zu ziehen.
Die zwei Tage in Witzenhausen waren ein weiteres wertvolles Treffen, um gemeinsam über Theorie und Praxis zu reflektieren. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen, die die gemeinsame Zeit mit ihren Gedanken, Ideen, Fragen und Inspirationen bereichert haben und freuen uns auf das nächste Werkstatt-Treffen im Winterhalbjahr. Wenn Sie daran interessiert sind, dann tragen Sie sich doch einfach in den Newsletter von Kita-Global ein (https://kita-global.de/werkstatt-treffen/) und wir informieren Sie über das Thema und den Termin des nächsten Werkstatt-Treffens.
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