Märchen zweisprachig erzählen

Märchen zweisprachig erzählen – wie das geht und warum es das Verständnis über Landes-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg erleichtert berichtet die Bibliothekarin und Rhythmikpädagogin Susanne Brandt.

Susanne Brandt arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Bibliothekarin in und für öffentliche Bibliotheken in Norddeutschland. Zurzeit ist sie dort als Lektorin der Büchereizentrale Schleswig-Holstein u.a. für die Auswahl von Kinderbüchern zuständig. Außerdem entwickelt und begleitet sie Leseförderprojekte, die in den Büchereien des Landes Schleswig-Holstein stattfinden.

Im Laufe ihres Berufslebens hat Susanne Brandt immer wieder festgestellt, dass sie zusätzliche Kompetenzen und Kenntnisse braucht, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Deshalb hat sie zusätzliche Ausbildungen in Rhythmikpädagogik, Bibliotherapie und in Deutsch als Fremdsprache, Integrationsbegleitung und interkultureller Musikpraxis gemacht.

Seit 2014 nehmen Erfahrungen mit Geflüchteten, Mehrsprachigkeit und dem Austausch über Musik und Geschichten auch ehrenamtlich viel Raum in ihrem Leben ein. So ist die Idee zu dem Vorlesetheater „Märchen machen Mut“ entstanden. Warum Märchen so ein wunderbares Mittel sind, um über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg Verständnis und gegenseitiges Kennenlernen zu fördern, erzählte sie uns im Interview.

Wieso eignen Märchen, um kulturübergreifend (deutsch/arabisch) Geschichten zu erzählen?

Susanne Brandt: Die Grundthemen der Märchen tauchen in verschiedenen Regionen der Welt mit vielen Ähnlichkeiten und Variationen auf. Da geht es um Mut und Vertrauen, Aufbruch und Erlösung, Angst und Rettung, Gerechtigkeit und Bewahrung als Sieg über das Böse. Es geht hier um Menschheitsthemen. Diese haben oft in mündlichen Erzähltraditionen ihren Anfang genommen. Und dieser Anfang ist bei vielen Märchen im orientalischen Raum zu finden. Von dort sind sie nach Europa und Deutschland gekommen.

Wir teilen hier also einen gemeinsamen Schatz mit Perlen, die in verschiedenen Farben leuchten. Außerdem hilft es beim Erzählen für und mit Menschen mit verschiedenen Herkunftssprachen, da es bei vielen Märchen einen klaren linearen Verlauf gibt. Auch die Bildersprache und die Möglichkeit, das Erzählen durch Gesten, Bewegung und Singen zu begleiten, erleichtert das.

Welche Märchen haben Sie für „Märchen machen Mut“ ausgewählt und warum?

Susanne Brandt: Ein kurzes Märchen unter den Klassikern, für das es viele verschiedene Übersetzungen gibt, ist „Sterntaler“. Und es trägt zugleich eine tröstliche Botschaft in sich. Einen anderen Charakter hat das Märchen von den „Bremer Stadtmusikanten“. Es eignet sich für alle Altersgruppen. Besonders bei etwas älteren Schülerinnen und Schülern kommt es gut an, weil sie es auch gut nachspielen können. Dazu gibt es ebenfalls viele Übersetzungen.

Daneben gibt es viele Beispiele für Märchenvarianten. Zum Beispiel beim Märchen vom „Wolf und den sieben Geißlein“. In Afghanistan ist ein ähnliches Märchen bekannt, das aber am Ende einen anderen Verlauf nimmt – mit einer starken mutigen Mutter. Daneben nutze ich auch kurze Fabeln von Aesop. Denn auch die kennen viele zugewanderte Menschen bereits in ihrer Herkunftssprache.

Es gibt inzwischen verschiedene Märchensammlungen mit Geschichten, die Kinder von anderswo zu uns mitgebracht haben – mehrsprachig oder in deutscher Übersetzung. Darin entdecken wir gemeinsam Vertrautes und Neues. Dieses Wechselspiel ist mir wichtig: der geteilte Schatz an Geschichten mit verschiedenen Farben und Facetten. Und dann die Arbeit mit Bildern, die bei fehlenden Sprachkenntnissen wechselseitig Brücken bauen können.

Welche Tipps haben Sie für Erzieher*innen und Pädagog*innen, die Märchen zweisprachig erzählen möchten?

Susanne Brandt: Wichtig ist, dass die Weitergabe von Geschichten in anderen Ländern oft von mündlichen Erzählkulturen und Dialekten geprägt ist. Bei uns spielt dagegen das Vorlesen und die Buchkultur eine größere Rolle. Die arabische und persische Schriftsprache in zweisprachigen Buchausgaben entspricht also oft nicht der gewohnten Erzählsprache.

Wer also mit einer Frau oder einem Mann Kindern zweisprachig Geschichten erzählen möchte, sollte das gemeinsam vorbereiten: Am besten erarbeiten beide die Geschichten in kleineren Sinnabschnitten gemeinsam mündlich. Wer mag, kann sich dazu dann in eigenen Worten Notizen machen. Man kann aber auch einfach frei erzählen. Am besten stimmt man dazu im Vorfeld das Wechselspiel ab.

Außerdem sollte man sich vorher überlegen, wie sich eine Geschichte mit spielerischen oder musikalischen Elementen verbinden lässt. So kann sie gegebenenfalls auch nonverbal – nur über Klang und Bewegung – funktionieren.

Welche Methoden stehen zur Auswahl und wie nutzt man sie exemplarisch?

Susanne Brandt: Um Geschichten im Wechsel mehrsprachig erzählen zu können, sollte man das durch Bilder und Symbole unterstützen. Wenn im Märchen nur wenige Personen oder Motive vorkommen, male ich zentrale Motive zum Beispiel auf eine Butterbrottüte. Dann nutze die Tüte wie eine Handpuppe. Ich halte das Motiv an der passenden Stelle zum Text hoch oder führe zuvor mit den Bildern die wiederkehrenden Worte in beiden Sprachen ein. Man kann aber auch wichtige Bilder und Motive der Geschichte beschreiben, indem man die Finger und Hände als Handgestenspiel bewegt. Oder man arbeitet mit Legekarten.

Eine ideale Ergänzung zu den Bildern und zu der gesprochenen Sprache sind außerdem kleine Lieder, die zum Thema oder zu einzelnen Szenen des Märchens passen. Und zwar solche, die mit einem ganz kleinen Wortschatz auskommen. Zum Beispiel Lieder, die einfache Kehrverse zum Mitsingen beinhalten und sich so vielleicht auch in verschiedene Sprachen übersetzen lassen.

Von der türkischen Gruppe „subadap cocuk“ gibt es zum Beispiel Lieder, deren Texte sich leicht in verschiedene Sprachen übertragen lassen. Die Themen ihrer Lieder – Natur, Freiheit, Gemeinschaft, Frieden – passen zu den Grundthemen vieler Märchen und Geschichten. Durch das Singen prägen sie sich dann nochmal besonders ein. Überhaupt ist gemeinsames Singen eine wunderbare Möglichkeit, um sich Texte zu merken, mit Sprachstrukturen vertraut zu werden und einen emotionalen Zugang zu der Geschichte, ihren Bildern und Symbolen zu finden.

Auf der Website sind Sie mit einem Kamishibai Erzähltheater zu sehen. Was ist das und wieso ist es etwas so Besonderes für Kinder?

Susanne Brandt: Das Kamishibai Erzähltheater kommt ursprünglich aus Japan. Es hat sich inzwischen aber auf der ganzen Welt als Methode des bildgestützten Erzählens von Märchen, Geschichten oder Sachthemen verbreitet. Dabei steckt man in einen Holzrahmen Bildkarten, die zum Verlauf des Märchens passen. Das geht mit einem einfachen Handgriff. Für mich ist das ein wunderbares Hilfsmittel für das zweisprachige Erzählen. Denn die Geschichte gliedert sich dadurch in kleine Szenen. Die Bilderfolge führt also durch die Geschichte. Und jeder Erzähler kann dann zu jedem Bild in seiner Sprache etwas erzählen oder vorlesen.

Die Kinder hören dabei im kurzen Wechsel jeweils die vertraute und die fremde oder neu gelernte Sprache. Und was die Kinder vielleicht sprachlich nicht verstehen, das lesen sie oft aus den Bildern heraus. Erfahrungsgemäß kann man so die Spannung und Aufmerksamkeit für den Fortgang der Handlung am besten halten.

Bildkartensätze für das Kamishibai zu Märchen und Geschichten gibt es inzwischen in großer Auswahl fertig im Handel. Man kann sie aber auch selbst gestalten. Und noch ein Tipp: Das Kinderliteraturhaus „Bücherpiraten“ e.V. in Lübeck bietet unter www.bilingual-picturebooks.org Geschichten und fantasievolle Märchen in ganz vielen Sprachkombinationen von Kindern für Kinder kostenlos zum Download an. Die Bilder dort lassen sich gut für das Erzählen mit Kamishibai in DIN-A3 ausdrucken und dann mit mehrsprachigen Textfassungen kombinieren. Und natürlich gilt auch für das Kamishibai: Singen, Bewegungs- und Klangspiele zum Mitmachen erweitern neben der Sprache und den Bildern die Zugänge zu einer Geschichte über alle Sinne.

Vielen Dank für das Interview!

Material-Link

Eine ganze Liste mit Links und Tipps zu Materialien zusammen gestellt von Susanne Brandt finden Sie auch über unsere Materialsammlung unter dem Titel „Märchen machen Mut“:

Foto: Kirsten Haarmann / Bücherpiraten e.V.