Zu Besuch im Tropengewächshaus in Witzenhausen

Das Tropengewächshaus in Witzenhausen und die Kolonialgeschichte der Pflanzen

Wie das Tropengewächshaus in Witzenhausen die Kolonialgeschichte von Nutzpflanzen aufarbeitet. Was alle Europäer*innen über alltägliche Lebensmittel wie Kaffee, Kakao & Co wissen sollten. Und wieso die Weiterbildung »MyWeGa – Kitas Gemeinsam Global!« für Erzieher*innen in Kitas wirklich spannend ist!

Heiß ist es. Und stickig. Und es wird noch heißer und stickiger, als sich die kleine Gruppe von Erzieherinnen und Bildungsreferent*innen durch die schmale Tür in den ersten großen Raum des Tropengewächshauses in Witzenhausen drängt. Während draußen das Thermometer bereits um zehn Uhr auf die 30 Grad zusteuert, nutzen die Teilnehmenden des Werkstatt-Treffens von KITA-GLOBAL drinnen die letzten zumindest etwas kühleren Vormittagsstunden, um einen Rundgang zu den Pflanzen anzutreten, die wir eigentlich alle kennen sollten (immerhin genießen wir ihre Produkte täglich!). Doch an diesem Tag bewundern viele das erste Mal in ihrem Leben: »So sehen die Pflanzen also aus, aus denen Tee, Kaffee, Kakao, Reis, Bananen, Pfeffer, Vanille oder Kurkuma entstehen!«. Und sie erfahren: All die Lebensmittel und Gewürze, die uns so alltäglich erscheinen, haben eine lange, eine schwierige Geschichte.

Das Erbe botanischer Gärten

»Jede Pflanze hat auch eine kulturelle, soziale, ökonomische und eine politische Seite«, stellt Marina Herthke gleich zu Beginn ihrer Führung fest. Sie ist unter anderem Agraringenieurin, Eine-Welt-Multiplikatorin und Mitglied im Fachforum (BMBF) Informelles/ Außerschulisches Lernen im Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung. Und sie ist die Kuratorin des Tropengewächshauses in Witzenhausen. Als solche hat sie ein geschichtsträchtiges Erbe angetreten. Und zwar eines, das von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung geprägt ist.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde im ehemaligen Klostergebäude an der Steinstraße die Deutsche Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe gegründet. Bis 1944 konnten Menschen hier eine Ausbildung als Tropenlandwirt*in absolvieren. Dabei spielte der Anbau tropischer Nutzpflanzen natürlich eine zentrale Rolle. Schon vier Jahre nach der Gründung der Kolonialschule wurde 1902 deshalb das erste Gewächshaus für tropische Nutzpflanzen gebaut. Seitdem sind zahlreiche Pflanzen aus dem Globalen Süden hierher gelangt. So, wie in all die anderen Botanischen Gärten Europas.

Die Geschichte Botanischer Gärten in Europa beginnt mit dem Kolonialismus und der europäischen Expansion. Die Menschen in den Kolonien sollten Nutzpflanzen liefern, die der Ernährung, dem Genuss, der Medizin oder als Rohstoffe für die Industrialisierung Europas dienten. Dafür mussten sie oft unter grausamen Bedingungen arbeiten. Die Botanischen Gärten in Europa stellten die »exotischen« Pflanzen aus und machten damit oftmals Werbung für die euphemistisch »Schutzgebiete« genannten Kolonien. Neben Saatgut und Setzlingen gelangten auch Millionen von gepressten und getrockneten Pflanzenproben in den Globalen Norden.

Dabei unterstrichen die Sammler*innen und Wissenschaftler*innen, wie »unzivilisiert« das Leben in den Ländern des Globalen Südens wäre. Sie stellten es zum Beispiel so dar, als hätten sie all diese Pflanzen entdeckt – obwohl die lokale Bevölkerung die Pflanzen schon lange kannte und nutzte. Und sie überlieferten weder, von wem sie die Informationen über die Pflanzen eigentlich hatten (meistens Einheimische), noch welche Namen sie ursprünglich trugen. Statt dessen gaben sie den Pflanzen lateinische Bezeichnungen (der europäischen Wissenschaftssprache), in denen oftmals die Namen der europäischen Sammler*innen, Wissenschaftler*innen, Geldgeber*innen oder Menschen mit Machtpositionen vorkamen.

Damit trugen die Botanischen Gärten zum strukturellen Rassismus bei, der sich bis heute hält und das Leben vieler Menschen beeinflusst. »Diese systematische Ausbeutung von Menschen, Rohstoffen und Natur hat den Industrienationen letztlich zu enormem Reichtum verholfen, von dem der Globale Norden bis heute profitiert«, schreibt der Verband Botanischer Gärten in seinem Positionspapier zu dem Thema. Das Tropengewächshaus in Witzenhausen stellt sich dieser historischen Verantwortung bereits seit langem und ist damit ein Vorbild. Es bietet zahlreiche Veranstaltungen an, die das Thema einer breiten Öffentlichkeit vermitteln möchten. Die Belegschaft meidet diskriminierende Pflanzennamen. Und sie beschäftigt sich mit der Provinienz – also mit der Frage, woher die Pflanzen stammen und welche Form von »Rückgabe« sinnvoll sein könnte.

Push-Pull-Methoden der drei Schwestern

1966 zog das Gewächshaus für tropische Nutzpflanzen in größere Gebäude. 1971 wurde es Teil der neu gegründeten Universität Gesamthochschule Kassel. Heute gehört das Gewächshaus dem Deutschen Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL). Auf 1.200 Quadratmetern wachsen hier etwa 480 Pflanzenarten. Darunter gibt es Nahrungs- und Genussmittelpflanzen, Gewürz-, Medizinal-, Färbe-, Energie-, Duft- oder Faserpflanzen in jeweils verschiedenen Sorten und Herkünften. An diesem heißen Julitag stehen wir zunächst vor einem kleinen Beet, in dem die Idee der drei Schwestern mit anderen Pflanzen erprobt wird. Die Idee für diese synergetische Anbauform namens Milpa kommt aus der indigenen Subsistenzwirtschaft Mexikos, Guatemalas, Honduras’ und El Salvadors. Klassischerweise wachsen dazu Mais, Bohnen und Kürbisse in einem Beet. Der Mais dient als Rankhilfe für die Bohnen. Die Bohnen reichern den Boden mit Stickstoff an. Und die großen Blätter des Kürbis halten die Feuchtigkeit des Bodens und Beikräuter fern.

Im Tropengewächshaus stehen wir vor einer anderen Variante: eine Leguminose wächst zwischen Hirse oder Mais. Sie hält den gefürchteten Stängelbohrer fern, ein Schädling, der erhebliche Ernteeinbußen verursacht. Rund um das Beet wächst Elefanten- oder Napiergras, das den Stängelbohrer anlockt, sodass dieser dort seine Eier legt. Die Blätter des Grases können mitsamt der Eier abgeschnitten und als Tierfutter verwendet werden. Eine natürliche Schädlingsbekämpfung, die nach dem sogenannten Push-Pull-Prinzip funktioniert. Und ein tolles Beispiel dafür, dass indigenes Kulturwissen in Wahrheit viel klüger ist, als die vermeintlich so zivilisierten Ideen aus Europa. Diese haben Konzepte wie Monokulturen, Plantagen und Kunstdünger in Ländern des Globalen Südens verbreitet. Dinge, die heute ganz erheblich zu globalen Krisen wie Artensterben, Klimaerhitzung und Armut beitragen.

Pflanzengeschichten: Tee, Banane, Kaffee & Co

Pflanzen haben aber nicht nur eine koloniale, historische Geschichte. Um ihre Entstehung ranken sich in den Ursprungsländern auch viele mythische Erzählungen. So zum Beispiel beim Tee. Marina Hethke erzählte uns zwei Geschichten: Der eine Mythos besagt, dass der Buddha unter einem Baum meditierte. Dabei wurde er so müde, dass ihm die Augen zufielen. Wütend auf sich selbst riss er sich die Augenlider aus und aus ihnen wurden Teeblätter. Eine zweite, weniger grausame Legende berichtet, dass der Kaiser von China vor fast 5.000 Jahren die erfrischende Wirkung von Tee entdeckte, als ihm der Wind zufällig Teeblätter in seine Tasse heißen Wassers wehte.

Wie auch immer die Menschen den Tee für sich entdeckten: Fest steht, dass Tee in China schon Jahrtausende bekannt war, als die Europäer*innen ihn entdeckten. Noch heute zeigt sich die Kolonialgeschichte im Namen. In Ländern, in die der Tee über den Landweg über Indien und Persien gelangte, heißt er »Chai«. Etwa in Russland, der Ukraine, der Türkei oder dem Balkan. In Ländern, in die der Tee über den Seeweg kam, wird er – auch wenn er unterschiedlich geschrieben wird – so ähnlich wie »Tee« ausgesprochen. Zum Beispiel in Spanien, Portugal, Frankreich, England, Schweden oder Finnland. Das ursprüngliche chinesische Schriftzeichen war allerdings in allen Fällen das Gleiche.

Es würde lange dauern, wollten wir hier wirklich alle Geschichten, Anekdoten und Informationen wiedergeben, die Marina Hethke der Besucher*innengruppe in ihrer quirligen und äußerst unterhaltsamen Art an diesem heißen Julitag im Tropengewächshaus in Witzenhausen vortrug. Kaffee, Kakao, Reis, Bananen, Vanille, Pfeffer, Kurkuma und viele weitere Pflanzen konnte die Gruppe an diesem Tag nicht nur in Echt sehen, anfassen, riechen und teilweise sogar auch schmecken. Sie erfuhr auch wirklich spannende Hintergründe, die eigentlich alle wissen sollten. Vor allem aber Erzieher*innen und Pädagog*innen, die die Weltsicht von Kindern in KITAs mit prägen.

MyWeGa: WeltGarten Witzenhausen

Es verwundert sicherlich niemanden, dass das Tropengewächshaus in Witzenhausen Teil eines spannenden Kooperationsprojektes ist. Unter dem Titel »Zentrum für Globales Lernen – WeltGarten Witzenhausen« kooperieren sechs Partnereinrichtungen, die sich gemeinsam in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit engagieren. Ihre Erfahrungen und Bildungsangebote setzen sie für alle möglichen Altersgruppen an drei verschiedenen außerschulischen Lernorten um: dem Tropengewächshaus in Witzenhausen, dem örtlichen Weltladen und dem städtischen Museum. Ein Interview zum WeltGarten Witzenhausen mit weiteren Infos finden Sie auf KITA-GLOBAL unter: https://kita-global.de/weltgarten-witzenhausen-globales-lernen-zum-anfassen/.

Im Angebot von MyWeGa gibt es auch Weiterbildungen für Erzieher*innen im Elementarbereich. Zum Beispiel die neue Fortbildungsgruppe 2024/25 für »MyWeGa – Kitas Gemeinsam Global!«. Sie startet am 26. November 2024 in Witzenhausen und richtet sich an den Grundlagen und Prinzipien des Hessischen Bildungs- und Erziehungsplans (BEP) aus. Sie besteht aus fünf aufeinander aufbauenden Workshop-Tagen sowie Praxis-Phasen, die dazwischen liegen. Für die Leitungskräfte der teilnehmenden Kitas gibt es am 12. Dezember 2024 von 14–17 Uhr eine Online-Einführung zum Thema.

Weitere Infos liefert der Flyer, den Sie hier herunterladen können: https://weltgarten-witzenhausen.de/fileadmin/weltgarten_witzenhausen/Flyer_myWeGa.3_-_Kitas_Gemeinsam_Global_Grp_II_2025.pdf

Das KITA-GLOBAL-Team und die Teilnehmer*innen sind begeistert von diesem Kooperationskonzept und einige wollen versuchen, die Idee dieser sinnstiftenden Zusammenarbeit in ihre Region zu tragen.