Philosophieren mit Kindern – wie geht das denn? Birgit Becker ist Philosophin und Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation Paidosophos. Sie will das Philosophieren als praktizierte Bildung in der Gesellschaft verankern. Angefangen hat bei ihr alles mit der Frage: »Wenn ich nicht ich wäre, wer wäre ich sonst? Und könnte ich mir diese Frage dann überhaupt stellen?« Das fragte sich Birgit Becker mit zwölf Jahren. Und das ist auch die erste philosophische Frage, an die sie sich erinnern kann. Heute fängt sie mit Kindern bereits viel früher an zu Philosophieren – und zwar schon ab vier Jahren. KITA-GLOBAL sprach mit ihr über die Bedeutung des Philosophierens in der Kita.
Wer sind Sie und was machen sie?
Birgit Becker: Ich bin eine ausgebildete Pädagogin und hatte das Glück, bereits während meines Pädagogikstudiums Kinder zu haben. Mein damals achtjähriger Sohn sagte damals zu mir: »Mama, das Leben ist das Glück beim Sterben.« Das sagte er einfach so. Ich war mitten in meinem Pädagogikstudium und ganz verunsichert: wie sollte ich mit so einer Aussage umgehen? Mit dieser Unsicherheit bin ich dann wissenschaftlich aktiv geworden und habe geschaut: Braucht mein Kind jetzt eine psychologischer Betreuung? Oder steckt da etwas anderes dahinter? Dadurch bin ich auf die Thematik »Philosophieren mit Kindern« gestoßen. Diesen Ansatz hatte der US-amerikanische Hochschullehrer für Logik Matthew Lipman bereits im Jahre 1972 in einem Institut in New Jersey gegründet. Ab da habe ich wirklich nachgebohrt und meine wissenschaftliche Abschlussarbeit an der TU Darmstadt über »Kinderphilosophie – ein pädagogisch und philosophisch vernachlässigtes Thema« geschrieben.
Ich habe dabei gesehen: In beiden Bereichen – in der Pädagogik und in der Philosophie – wird das Philosophieren mit Kindern einfach vernachlässigt. Man spricht darüber nicht. Und nun bin ich voller Freude, dass das Philosophieren mit Kindern seit 2007 sogar im Bildungs- und Erziehungsplan steht. Überall, wo mit Kindern aktiv, also zwischen null und 14 Jahren, gearbeitet wird, sollte mit den Kindern auch philosophiert werden. Und deswegen habe ich die Organisation Paidosophos aus der TU heraus als kleines Spin-off gegründet. Paideia ist griechisch und bedeutet »die Bildung«. Und »Sophos« bedeutet »weise«. Paidosophos steht also für die »weise Bildung« für das Kind. Wir wollen das Philosophieren mit Kindern auf ganz vielen Ebenen bekannt machen. Wir wollen allen das Zutrauen zu geben, dass sie mit Kindern philosophieren können. Und wir wollen zeigen, was für einen wunderschönen Effekt das Philosophieren mit Kindern hat.
Wie kann ich mir das denn praktisch vorstellen? Was bieten Paidosphos konkret an?
Birgit Becker: Wir sind auf verschiedenen Ebenen unterwegs. Wir bieten selber Kurse zum Philosophieren an für Kinder, Jugendliche und jungen Erwachsenen. Zum Beispiel gehen wir in Vorschulen und Philosophieren dort mit Kindern. Dabei fallen immer Nebenprodukte an. Ein Nebenprodukt sind zum Beispiel die sogenannten »Thinking Skills«, wie Matthew Lipman das nannte. Das bedeutet, dass die Kindern lernen, ihre Gedanken zu sortieren. Ein weiteres Nebenprodukt sind die »Reasoning Skills«, also Begründungsfähigkeiten. Deswegen wird das Philosophieren mit Kindern auch gerne in der Sprachförderung angewandt.
Die Fragen, die der Anlass für das Philosophieren sind, kommen immer von den Kindern. Hier müssen die Erwachsenen so sensibel sein und hören, was für eine Frage ein Kind hat. Oft sind diese Fragen hochphilosophisch. Es sind Fragen, die die alten Philosophen und Philosophinnen früher auch beschäftigt haben. Und so bieten wir einerseits Kurse mit Kindern an, die diese Fragen aufgreifen. Andererseits bringen wir Erziehenden und Lehrenden das Philosophieren mit Kindern in ihrer Ausbildung näher. Natürlich brauchen sie kein Philosophiestudium, um mit Kindern zu philosophieren. Vielmehr spielt die eigene Motivation und Haltung eine wichtige Rolle. Die Offenheit, sich zu fragen: »Was ist denn das und wie kann ich das einbinden? Wie kann ich die Fragen der Kinder kultivieren und ihnen Raum geben?«
Was heißt Philosophieren, denn eigentlich? Was lernen Erzieher:innen, wenn sie bei ihnen Philosophieren lernen?
Birgit Becker: »Philos« bedeutet »der Freund« oder auch »die liebende Sehnsucht zu«. »Sophia« heißt »Wahrheit« oder »Wissen«. Und »Philosophie« bedeutet demnach so viel wie »freundschaftliche Liebe zur Wahrheit«. Oder auch »das Streben zur Wahrheit«. Philosophieren mit Kindern bedeutet, dass mit ihnen gründlich über wichtige Begriffe der Menschheit oder Fragen nachgedacht wird. Ich sage immer: »Wir denken beim Philosophieren über Fragen nach, deren Antworten in keinem einzigen Buch dieser Welt stehen.« Die Antworten müssen alle für sich selbst herausfinden. Niemand kann sagen: »Das ist so und nicht anders.«
Ich versuche Fragen im Sinne von Immanuel Kant zu formulieren, philosophische Fragen. Das sind Fragen der menschlichen Wahrnehmung, der menschlichen Handlung, des menschlichen Hoffens. Also zum Beispiel: »Was kann ich hoffen?« oder »Was ist der Mensch generell?« Philosophieren ist also ein gründliches Nachdenken über wichtige Begriffe, die uns in unserer Lebensbahn so über den Weg laufen. Philosophieren erleben wir in einem Dreiklang aus pädagogischer Haltung, Methoden des Philosophierens und philosophischen Inhalten, wie zum Beispiel »Gerechtigkeit«. Beim Philosophieren mit Kindern fragen wir uns also zum Beispiel: »Was ist gerecht?« Oder auch: »Was ist der Tod?« Oder eine Frage, die ich oft von Kindern höre, ist: »Warum wächst alles und bleibt nicht einfach klein?« Erzieher:innen, die mit ihren Kindern philosophieren wollen, brauchen feine Ohren, um zu hören, ob eine Fragen eine philosophische Motivation hat.
Die Kinderphilosophin Eva Zoller kennt verschiedene Arten von Motivation. Die Frage eines Kindes kann eine emotionale Motivation haben. Das Kind möchte einfach in den Arm genommen werden, wenn so eine Frage kommt. Vielleicht erwartet es aber auch eine sachliche, ganz klare Antwort: »So ist es, fertig, gut, das reicht«. Die Frage eines Kindes kann aber eben auch diese philosophische Motivation haben. Diese Motivation braucht die Resonanz bei den Erwachsenen, damit sie sich entfalten kann. Sie muss aufgefangen und begleitet werden. Dann kann das Kind diese Neigung ausbilden. Nur dann bleiben Kinder bei ihren Fragen und versuchen auch wirklich ihre Antworten zu finden. Dazu brauchen sie eine begleitende Unterstützung. Und dafür versuche ich Erzieher:innen zu sensibilisieren durch meine Fortbildungen.
Erzieher:innen begleiten die Kinder dabei, die richtige Frage zu stellen und eine Antwort darauf zu finden?
Birgit Becker: Ja, Erzieher:innen fangen erst einmal die Frage auf und merken »das ist eine Frage mit philosophischer Motivation« und nehmen diese erst einmal in Resonanz mit einer offenen Gegenfrage auf. Sie schaffen einen Raum, in dem sie das Kind Gedanken über diese Frage machen kann. Ist das Kind wirklich an eine Begleitung interessiert, orientiert es sich an seinen eigenen Gedanken. Das ist ein längerer Prozess und braucht Zeit, Liebe und Muße. Also alles, wofür Erzieher:innen wunderbar geeignet sind, denn sie begleiten das Kind ja ohnehin so lange durch deren Leben. Wenn dann Erziehende merken, dass sie dazu beitragen können, dass ein Kind an seinen Fragen dranbleibt und seine eigenen Antworten sucht, ist das meist eine positive Erfahrung. Es ist wirklich wichtig, dass sich Kinder mit solchen Fragen nicht alleine beschäftigen müssen. Kinder können nämlich philosophieren und ihre eigenen Antworten finden – wenn sie merken, dass da eine Resonanz bei den Erwachsenen ist. Andernfalls geben sie es auf, solche Fragen zu stellen.
Philosophieren mit Kindern ist ja durchaus etwas, was in der Gruppe stattfindet, oder?
Birgit Becker: Ja, genau. Am schönsten ist es ja, in der Gemeinschaft zu philosophieren. Zu merken, dass Gedanken, die mir kommen, auch andere haben. Dass andere vielleicht sogar noch viel witzigere oder wildere Gedanken haben. Und dass das weitere Gedanken in mir hervorruft. Das ist wie eine Forschungsgemeinschaft, die sich gegenseitig braucht. Deswegen nenne ich die Menschen, die philosophieren, gerne auch Gedankenforscher:innen. Sie erforschen ihre eigenen Gedanken. Dafür brauche ich die Anderen. Einige können das besonders gut in der Gruppe. Andere machen das vielleicht lieber nur mit einem einzigen Menschen – etwa als Kind mit einem Erwachsene. In der Gemeinschaft zu denken hat was wunderschönes, erquickendes – für alle. Deshalb wünsche ich mir auch genau solche Gruppen-Settings viel häufiger in der Kita. Sie haben einen demokratisierenden Effekt. Die Kinder lernen, die Meinungen anderer anzuhören. Und sie lernen zu versuchen, diese zu verstehen.
Wie können Erzieher:innen die philosophischen Fragen der Kinder aufgreifen?
Birgit Becker: Wichtig ist, dass Erzieher:innen gute Anschlussfragen stellen. Dabei kann die Fünf-Finger-Methode helfen. Jeder Finger steht für eine andere Art von philosophischer Frage. Dabei handelt es sich immer um offene Fragen, die auf die Teilbereiche der Philosophie abzielen. Der Daumen steht für das Analytische. Er hält fest, was ist. Etwa durch Fragen, wie »Meinst du damit das oder etwas anderes?« Oder: »Wie ist das zu verstehen, was du meinst?«. Oder: »Verstehe ich dich da so richtig?«
Der Zeigefinger zeigt in unterschiedliche Richtungen und steht daher für die Perspektivenvielfalt einer Sache. Das kann zum Beispiel eine Frage sein, wie: »Du siehst das so – wie würden deine Eltern das sehen?« Oder auf die Spitze getrieben: »Wie würde das ein Außerirdischer sehen?«. Dieser Frage führt die Kinder zur ganz großen Abstraktionen hin. Sie hilft dabei, sich auf eine Essenz, das Wesentliche zu reduzieren. Und sie hilft uns, das zu sehen, was andere sehen.
Dann eben der Mittelfinger, das ist der längste Finger und steht für eine Waage – und damit für Widersprüche, für »Pro« und »Contra« … Diese Fragen helfen uns, Widersprüche zu benennen und in der Schwebe zu halten: »Seht ihr, dass das da ein Widerspruch ist?«
Dann gibt es den Ringfinger. Das ist der Beziehungsfinger. Also etwa: »Wie stehe ich zu meinen eigenen Gedanken?«, »Wie begründe ich dies?« und »Wie komme ich zu diesen Gedanken?«. Es geht also darum herauszufinden, ob ein Kind das einfach nur von jemandem übernommen hat. Oder ob es das wirklich so meint. Ob das Kind das richtig verstanden hat. Und ob es vielleicht auch noch weitere, eigene Gedanken dazu entwickeln kann.
Der kleinste Finger steht für die Spekulationsmethode. Also die Frage: »Was wäre wenn?« Sie lädt dazu ein, total frei zu denken. Und hier sind uns die Kinder meist weit voraus. Wirklich frei zu denken, können die meisten Erwachsenen nicht wie es die Kinder können. Spannende Fragen sind dabei zum Beispiel: »Was wäre, wenn wir alle gleich wären?« Oder: »Was wäre, wenn es keine Kita mehr gäbe? Wo wären die Kinder dann? Was wäre wenn…?«. Solche Gedankenspiele können Erzieher:innen wunderbar machen.
Die letzte Fragetechnik will ich gleich aufgreifen: Was wäre, wenn das Philosophieren mit Kindern breit in unserer Bildung verankert wäre ?
Birgit Becker: Das fände ich wunderschön. Die Kinder würden aus ihren Fragen heraus die Dinge verstehen. Sie wären Fragende in einem Forschungsprozess. Sie würden nicht sagen: »Nur weil es da steht, stimmt so«. Sie würden weiter forschen: Ist es Es ist wirklich so? Sie würden sehr kritische Denker:innen werden und erst dann zufrieden sein, wenn sie eigene Antworten gefunden haben. Wir würden dann auch die Probleme lösen können, von denen wir jetzt noch überhaupt nichts wissen. Denn unsere Kinder werden in der Zukunft mit Problemen konfrontiert sein, von denen wir heute noch keine Ahnung haben. Wer aber mit kritischem Denken ausgerüstet ist, der kann geistig selbstwirksam sein. Darum geht es beim Philosophieren. Deshalb ist Philosophieren mit Kindern auch so wichtig für die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE).
Wenn ich entdecke, dass ich selbst Begründungen finden kann, dann kann ich auch Lösungen für Probleme finden, die mir auf den ersten Blick ganz schwierig erscheinen. Doch wenn ich nie lerne, Lösungen auf kreative Art und Weise zu finden, dann bin ich frustriert, wenn ich vor einem Problem stehe. Würden aber alle Kinder das Philosophieren lernen, wären sie kreativ in ihren Gedanken und in ihrem Suchen und Forschen.
Das Philosophieren mit Kindern hätte eine große Wirkung auf Kultur, Wirtschaft, Politik, die Demokratie …
Birgit Becker: Ja, genau. Wir würden uns dann erst einmal Zeit nehmen, um etwas wirklich zu verstehen. In so einer philosophischen Gemeinschaft kann ich immer noch mit jemandem befreundet sein, der oder die komplett anderer Meinung ist als ich. Darüber reden wir. Wir verstehen, welche Gründe der andere jeweils hat. Und danach spielen wir wieder zusammen. Diese Art des Austausches, der von Respekt und Toleranz durchdrungen ist, hat einen schönen, demokratisierenden Effekt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Infos: Paidosophos
Paidosophos bildet sich aus den beiden griechischen Wörtern Paideia (Bildung) und sophos (weise). Paidosophos entstand aus der konkreten Arbeit mit Kindern und jungen Erwachsenen. Seit 2002 forscht das Team auf diesem Gebiet, ehemals angegliedert an das Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik der TU Darmstadt. Im Arbeitskreis »Mit Kindern philosophieren« sind Konzepte entstanden, mit denen das Team den neuen didaktischen Ansatz auch außerhalb der universitären Lehre anbietet.
Artikel-Empfehlung: Philosophieren mit Kindern
Wie geht das – Philosophieren mit Kindern? Das haben wir 2017 schon einmal gefragt. Damals haben wir mit Doreen Thieke vom Weltladen Marburg gesprochen und sie hatte ebenfalls jede Menge Tipps.
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