Wie geht Demokratie in der Kita eigentlich? Der musische Kindergarten Pampelmuse in Chemnitz erprobt das bereits seit 16 Jahren. Die Leiterin Manja Hofmann erzählt im Interview über ihre wichtigsten Erkenntnisse.
Immer mehr Menschen machen sich heute Sorgen über die Zukunft unserer Demokratie. Dabei kann die immer nur so sein, wie die Menschen, die darin leben. Deshalb gehört Demokratiebildung zu den zentralen Anforderungen an die frühkindliche Bildung. Doch wie geht Demokratie in der Kita? Wie lernen Kinder, eine demokratische Grundhaltung? Und welche Kompetenzen und Haltung erfordert dies von den Pädagog:innen? Wir haben mit Manja Hofmann gesprochen, die seit über zehn Jahren in im musischen Kindergarten PampelMuse den Weg der demokratischen Gemeinschaft erforscht.
Wie gut gelingt es Kitas derzeit, Kinder auf des Leben in der Demokratie vorzubereiten?
Manja Hofmann: Wir bleiben weit hinter dem zurück, was wir eigentlich leisten müssten. Das liegt daran, dass wir durch unsere eigenen Bildungsbiografien ganz stark beeinflusst sind. Sie erschweren eine Auseinandersetzung mit Gemeinschaften, wie wir sie jetzt in Kitas haben. So neigen wir Pädagog:innen dazu, uns auf Aufgaben der Fürsorge und des Schutzes zu konzentrieren, anstatt auf die hin zu Befähigung und gemeinsamem Wachsen. Scheinbar sind diese Wurzeln sehr tief angelegt. Wir schmieden aus der Kontrolle, einem Sicherheitsbedürfnis heraus Pläne. Eine gute Balance zwischen der Fürsorge und Förderung von Kindern zu finden, fällt uns schwer. Wir brauchen auch die Beteiligung der Kinder und ihr Wachstum. Aber tendenziell bleiben die meisten Einrichtungen in diesem Kontroll- und Sicherheitsdenken.
„Die Kindheitsforschung zeigt, dass die ersten Jahre in der Entwicklung von Kindern prägend sind. In dieser Zeit werden wesentliche Grundlagen der Identität und Persönlichkeit gelegt. Kinder übernehmen durch die Erfahrungen im Alltag als nachwachsende Generation mimetisch das bereits existierende bewusste wie unbewusste Regelwerk sozialer und kultureller Codes“, Bundeszentrale für politische Bildung
Dieses Zitat klingt nach einem Paradox: Wir Erwachsenen müssten uns erstmal selbst ändern, damit Kinder von uns lernen können, wie ein demokratisches Miteinander geht. Wie gelingt das?
Manja Hofmann: Wichtig ist zu verstehen, dass unsere Arbeit nicht auf die Arbeit mit Kindern beschränkt werden darf. Die Arbeit in der Kita ist die Arbeit mit Kindern, mit Familien, im Team, aber auch mit dem Sozialraum, der Stadt und der unmittelbaren Umgebung. Dieses Bewusstsein muss überall präsent sein. Im Grunde ist eine Kultur wichtig, die die höchste Aufmerksamkeit für diese Gemeinschaft schafft. Meine Haltung ist ja erstmal nichts, was ich unmittelbar verändern kann. Selbst wenn ich das will. Ich kann nur dafür sorgen, dass die Menschen unter diesem Dach – also die Kinder, die Familien und wir als Team – Erfahrungen von Gemeinschaft und Demokratie machen, die uns perspektivisch in einer anderen Haltung von Gemeinschaft und Demokratie stärken.
Diese Veränderung kann ich als Leitung ansteuern, indem ich selbst das beste Vorbild für alle bin und mich in einer Rolle als fragender, offener Mensch zur Verfügung stelle. Dazu gehört auch, dass wir als Leitung Menschen dazu ermutigen, Fehler zu machen. Normalerweise spreche ich noch nicht einmal von Fehlern. Vielmehr geht es darum zu fragen: war etwas – gemessen an unserem Ziel – eher hilfreich oder eher weniger hilfreich? Das ist eine Frage, die uns einander am nächsten bringt, egal zu welchem Thema wir uns austauschen.
Die Angst, einen Fehler zu machen, ist ein riesiges Hemmnis. Viele bringen die Erfahrung mit, dass es nichts Positives ist, sich selbst zu hinterfragen. Dass dies eher damit verbunden ist, dass ich nicht gut genug bin. Das sind so Muster, die wir selbst erlernt und erlebt haben und das von früh an. Um also noch mal auf deine Frage zurückzukommen: Wie geht Demokratie in der Kita? Dazu ist es ganz wichtig, eine Kultur zu fördern und zu etablieren, in der ich selbst auch Vorbild mit einer fragenden Haltung bin. Indem ich Räume schaffe, die geprägt sind von einer hohen Achtsamkeit im Miteinander.
Werkstatt-Treffen: Wie geht Demokratie in der Kita?
Am 17. Februar 2025 ludt KITA-GLOBAL zum ersten Werkstatt-Treffen diesen Jahres ein. Das Thema war: „Demokratie in der Kita“. Damals war unter anderem Manja Hofmann zu Gast, um die Praktiken der Gemeinschaftsbildung und Partizipation in ihrer Kita vorzustellen. Zwischen Pädagog:innen, Multiplikator:innen des Globalen Lernens und des BNE gab es einen regen Austausch. Interessiert am Werkstatt-Treffen? KITA-GLOBAL veranstaltet regelmäßig kostenfreie Werkstatt-Treffen für den Austausch und die Vernetzung.
Was sind erste Schritte, die Kitas in Richtung mehr Demokratie und Beteiligung gehen können?
Manja Hofmann: Ein erster Schritt ist, sich von jeglichen Dingen zu befreien, die uns einzuschränken scheinen. Das klingt jetzt zwar ein bisschen paradox, aber dazu gehören auch die Konzeptionen von Einrichtungen. Die meisten Konzeptionen sind so geschrieben, dass sie nicht für Handlungssicherheit der Kolleg:innen sorgen. Sie sind zumeist so geschrieben, dass externe Menschen – in aller Linie Erlaubnisbehörden wie die Landesjugendämter – entscheiden können, ob eine Einrichtung ans Netz gehen und den Betrieb aufrecht erhalten darf.
Ich habe festgestellt, dass sich viele verschrecken lassen von den großen Dingen, die in Konzepten stehen. Von den großen Vorhaben, die ja auch gut und nötig sind, und ja auch gesetzliche Bezüge haben und unbedingt auch einzulösen sind. Aber das auch mal Außen vorzulassen und zu sagen: jetzt guckt mal bitte nur auf diesen Ort und diese Gemeinschaft: Was brauchen wir hier?
Kitas sind nun mal für Kinder der erste Ort, an dem Menschen außerhalb der Familie zusammenkommen. Dort muss man zwangsläufig Regeln für dieses Miteinander finden. Ein erster guter Schritt ist es, sich erst einmal zu fragen: wie leben wir hier eigentlich zusammen? Also erst einmal das sichtbar zu machen, was schon da ist. Davon ausgehend kann man fragen: Wenn wir das, was wir beobachten, an dem messen, wie es sein sollte – wie können wir mit unseren Ressourcen dann das hier umsetzen? Das halte ich für einen guten Ausgangspunkt und einen guten Weg.
Das ist vermutlich auch der Prozess, den ihr als Kita durchlaufen habt? Wie kam es dazu?
Manja Hofmann: Dafür gab es verschiedene Gründe. Einerseits war das die Zeit, in der ich in die Kita eingestiegen bin. Dann war und ist die Kita schon immer ein besonderer Ort für Kinder und ihre Familien und wird auch als solcher wertgeschätzt. Aber bei genauerer Betrachtung musste ich feststellen, dass es sehr oft der Willkür einzelner Menschen unterlag, ob Einzelne oder auch Familien zu ihren Rechten kamen oder nicht. Und dass wir dem Druck und der Erwartung von Außen unterlagen, besonders kreativ sein müssen. Das hat dazu geführt, dass wir wie eine Fabrik ständig produziert haben. Mir hat das große Kopfschmerzen bereitet und ich hab mich gefragt: Wie geht es hier jedem und jeder Einzelnen? Wo ist hier die Gemeinschaft? Die Erfüllung dieser Erwartungen, die über die Jahre gewachsen sind, haben uns sozusagen gegenüber den anderen verschlossen.
Das war der eine Grund. Der andere war, dass das Landesjugendamt die Notwendigkeit sah, dass sich Einrichtungen konzeptionell mit einer stärkeren Beteiligung von Kindern auseinandersetzen sollten. Und zwar mit einem hohen Verbindlichkeitsgrad, also als Teil der Konzeption. Auch das war ein Grund zu sagen: lasst uns das Thema „Demokratie in der Kita“ doch mal ganz grundsätzlich betrachten. Und genau das haben wir getan – unabhängig von der Anforderungen der Landesjugendämter, die wir sehr viel schneller hätten erfüllen können.
Diese Betrachtung dessen, was ist, haben wir zu Beginn im Team gemacht. Fast zeitgleich haben aber auch die Eltern und Kinder mit in den Austausch geholt. Das war im Nachhinein betrachtet nicht die allerbeste Entscheidung. Denn es hat sich gezeigt: Wenn wir im Team keine Sicherheit in Bezug auf die Notwendigkeit der Veränderungen mitbringen, dann vergrößert das die Unsicherheiten auf Seiten der Familien. Das war so. Und das hat wiederum Menschen im Team verunsichert.
Um mehr Demokratie in der Kita anzugehen, ist besser, erst einmal im Team Klarheit zu schaffen, dass dieser Schritt notwendig ist. Es muss erst mal einen geschützten Raum für das Team geben, um die eigenen persönlichen Bezüge herstellen zu können. Das schafft Sicherheit. Und wenn man die erlangt hat, dann kann und sollte man den Prozess unbedingt für die Familien öffnen.

Wie habt ihr die Kinder in den Prozess eingebunden?
Manja Hofmann: Mir war klar, dass es eine Perspektive braucht, die nicht aus unserem Team kommt. Wir sind einfach zu nah dran. Unsere Beobachtungen sind ohnehin schon gefiltert. Deshalb können wir manche Reaktionen der Kinder gar nicht mehr sehen. Aus diesem Grund haben wir eine Pädagogin engagiert – finanziert über das deutsche Kinderhilfswerk, das auch heute mit vielen Fördertöpfen zur Beteiligung junger Menschen aufwartet. Diese Pädagogin war über viele Wochen hinweg vor Ort und zwar zu einer Zeit, zu der wir ganz viele Beteiligungsformate in der Kita erprobt haben. Natürlich, nachdem wir mit den Kindern darüber gesprochen und ihnen den Kontext geliefert hatten.
Das waren Formate wie etwa ein Kinderrat oder verschiedene Abstimmungsformen. Der Alltag lieferte uns dafür genügend Beispiele. Mit diesen konkreten Beispielen konnten wir erproben, wie wir zum Beispiel in Konflikten miteinander umgehen. Wie wir etwas aushandeln, was alle Kinder und Familien hier im Haus angeht. Oder wie wir mit Bedürfnissen umgehen, die jeder für sich hat. Die externe Pädagogin hatte die Aufgabe, uns und die Kinder dabei zu beobachten und uns währenddessen sowie im Nachgang zu reflektieren. Außerdem hat sie alles gut dokumentiert. Später konnte sie aufgrund dieser Beobachtungen die Kinder in der „verfassungsgebende Versammlung“ vertreten.
Wozu die verfassungsgebende Versammlung?
Manja Hofmann: Unser Ziel war eine Kindergartenverfassung. Zu Beginn setzten wir uns mit unserer Gemeinschaft und den Regeln in unserer Gemeinschaft auseinander, die für alle förderlich sind. Erst im Team, dann auch mit den Eltern. Das ging über einen Zeitraum von fast anderthalb Jahren. Dabei arbeiteten wir auch mit den Unsicherheiten im Team und auf Seiten der Familien. Anschließend konnten die Familien eine Delegation wählen, die sie in die verfassungsgebende Versammlung entsenden konnten. Die Kinder waren dort in Form der Pädagogin vertretend, die viele Wochen bei uns gearbeitet und die Kinderperspektiven dokumentiert hatte. Alle drei Gruppen – das Team, die Eltern und die Kinder – hatten den gleichen Stimmenanteil.
In dieser verfassungsgebenden Versammlung haben wir uns wichtige Fragen gestellt, wie: welche Rechte brauchen und wollen wir? Was wollen und müssen wir umsetzen? Und welche Beteiligungsstrukturen benötigen wir dafür?

Wieso ist die Kindergartenverfassung wichtig?
Manja Hofmann: Zum einen schafft sie das höchste Maß an Transparenz. Sie besagt, welche Rechte und Beteiligungsstrukturen es im musischen Kindergarten PampelMuse gibt. Nicht nur für Kindern, sondern auch für Familien. So müssen wir diese im Alltag nicht immer wieder neu verhandeln. Außerdem sind so die Rechte für alle einheitlich, es gibt keine Willkür mehr. Somit braucht es auch keinen Kampf mehr. Und wir brauchen keinen zusätzlichen Raum für Klärungen. Stattdessen gibt es eine ganz klar formulierte und gute Form, die alle anspricht.
Ist eure Verfassung öffentlich?
Manja Hofmann: ja, unter Pampel-Muse.de. (Hinweis der Redaktion: Zum Zeitpunkt des Interviews wurde die Website gerade überarbeitet. Sie können die Verfassung auch hier herunterladen.)
Was steht in der Kindergartenverfassung?
Manja Hofmann: Die Verfassung beginnt mit einer Präambel, die kurz und knapp unsere Haltung beschreibt. Hier begründen wir, warum wir Beteiligung als ein Grundrecht anerkennen. Diese anderthalb Seiten geben einen Eindruck von unserer Gesinnung und der Grundlage all unserer Arbeit. Hier ist zum Beispiel auch von Haltung und Dialog als Voraussetzung für gelingende Beteiligung die Rede.
Dann geht es um Strukturen. Also, wie sind die Rechte von Kindern und Eltern strukturell verankert? Hier werden die Beteiligungsmöglichkeiten von Eltern und Kindern gleichermaßen beschrieben. Im dritten Abschnitt werden die Beteiligungsrechte der Kinder benannt. Das betrifft zum einen ihre Rechte der Mitbestimmung. Zum Beispiel können sie die Regeln im Haus und in der Gruppe, das Aussehen der Spielzimmer und des Gartens sowie die Gestaltung der Feste und Veranstaltungen mitbestimmen.
Daneben gibt die Rechte, die jedes einzelne Kind betreffen. Also das Recht, selbstbestimmt zu bleiben. Das kann man sich ganz gut merken (so erklären wir das auch den Kindern): das sind alle Rechte, die die Kinder und ihren Körper betreffen. Dabei geht es um Essen, Schlafen und Kleidung. Und schließlich haben sie das Recht, sich zu beschweren. Das sind die drei Grundrechte.
Zu guter Letzt beschreibt die Kindergartenverfassung noch die Struktur, wie wir Inhalte aus der Verfassung ändern und anpassen können, wenn das Not tut.

Welche Aufgaben, Rechte und Pflichten hat der Kinderrat?
Manja Hofmann: Der Kinderrat ist zum einen Ansprechpartner für Beschwerden. Hierfür gibt es mehrere Anlaufpunkte: das unmittelbare pädagogische Umfeld oder ich als Leiterin. Oder eben auch die Kinderräte.
Zum anderen sorgt der Kinderrat für die grundsätzliche Beteiligung aller Kinder. Vor allem, wenn es um Formate wie Feste und Veranstaltungen geht. Hier haben wir durch die vielen Jahre die Erfahrung gemacht, dass man Kindern dafür ausreichend Zeit einräumen muss. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass es im Juni ein Sommerfest geben wird, dann wissen wir, dass wir mindestens 3 Monate im voraus den Startschuss an den Kinderrat geben müssen. Er sorgt dann für den Austausch mit den Kindern, um zu ermitteln, wie das Fest aussehen soll und wie wir es gemeinsam organisieren müssen.
Im Kinderrat fördern wir auch das gemeinsame Erinnern an vorangegangene Ereignisse. An Dinge, die als gelungen dokumentiert sind in den Unterlagen des Kinderrats. Oder woran sie sich auch selbst erinnern. Und auch an Dinge, die nicht so gut gelungen sind. Dann bringen die Kinder sie anders in die Planung ein. Dabei bedeutet Beteiligung nicht nur, was die Kinder bei diesem Fest tun möchten. Es geht auch um die Frage, wie wir das gemeinsam organisieren. Wen fragen wir nach? Welches Netzwerk können wir hier aktivieren?
Und dann wird im Kinderrat überlegt, wie die anderen Kinder einzubeziehen sind und was es dafür braucht. Jedes Kinderratsmitglied hat die Aufgabe, in seinen eigenen Gruppen die Aufträge weiterzugeben und zu besprechen. Dann trägt der Kinderrat die Ergebnisse aus den Gruppen zusammen, bringt sie sprichwörtlich an die Wand und überlegt, was die nächsten Schritte sind. Das bedeutet, dass der Kinderrat zum Beispiel nicht entscheidet, was das Thema eines Festes ist. Vielmehr hat er die Aufgabe, die Gemeinschaft mit einzubeziehen und deren Themen zu ergründen.
Wie setzt ihr die Kindergartenverfassung im Alltag um?
Manja Hofmann: Die Verfassung ist – ähnlich wie die Verfassung eines Staates – kein Handlungskatalog. Sie beschreibt nicht, wie man sich ganz konkret in Situationen verhalten soll. Zum Beispiel ist es bei den Selbstbestimmungsrechte nicht damit getan, die Kinder zu fragen: „Willst du heute schlafen oder nicht?“ Oder zu sagen: „Trag, was du willst“. Es geht darum, die Kinder zu befähigen, eine gute Entscheidung für sich zu treffen. Und da bin ich wieder bei dem, was ich vorhin sagte: dies hat auch immer persönliche Bezüge.
Was ist denn gut für das Kind? Was ist gut im Hinblick auf seine Schlafentscheidung? Schläft es heute oder ruht es sich in den Ruhegruppen aus? Mach ich das von meinen eigenen Empfindungen abhängig? Das ist keine einfache Entscheidung. Und auch wir können uns hier immer nur annähern. Es braucht die Gemeinschaft, um sich den Antworten auf solche Fragen anzunähern. Und es braucht in erster Linie die Kinder, die in diese Entscheidung einbezogen und ernst genommen werden müssen.
Habt ihr gemeinsame Routinen für die Selbstreflexion im Team?
Manja Hofmann: Wir reflektieren tatsächlich auf ganz vielen Ebenen. Wir nutzen zwar auch Klausurtage, um die Inhalte unserer Verfassung immer wieder unserem Alltag gegenüberzustellen. Doch das reicht nicht aus. Deshalb haben wir eine Kultur des gegenseitigen Ansprechens geschaffen. Wenn eine von uns Kolleg:innen im Alltag beobachtet und zu der Einschätzung kommt „Dass hätte ich anders entschieden.“ oder sich fragt „Warum hat sie das gerade auf diese Art entschieden?“ – dann haben wir im Team abgesprochen, dass wir uns dazu gegenseitig ansprechen können. So fühlt sich der Andere nicht persönlich angegriffen.
Gerade mit Blick auf die Kinder müssen wir unbedingt in dieser selbstkritischen Haltung bleiben. Wir wissen, wie herausfordernd so ein pädagogischer Alltag sein kann und dass er immer wieder unsere alten Muster hervorholt. Daher müssen wir uns immer wieder fragen: Bestimme ich gerade über Kinder, weil es wirklich nötig ist? Oder weil es einfacher für mich ist? Weil ich gestresst bin? Weil ich sehr fokussiert bin und eben nicht mehr das große Ganze sehen kann?
Denn es gibt ja keinen Handlungskatalog, der absolute Sicherheit schafft. Natürlich gibt es Spielräume. Jeder kommt tendenziell zu anderen Entscheidungen. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, dass wir beim Ansprechen immer erst einmal Interesse an den Begründungen hinter den Entscheidungen anderer haben. Wir müssen fragen, um zu verstehen. Wir müssen uns aber auch kritisch selbst hinterfragen. Dann kommen wir vielleicht zu dem Ergebnis: „Okay, dass war für diese Situation nachvollziehbar. Aber welche Lösungen schaffen wir für ähnliche Situationen in der Zukunft, die konform mit unserer Kindergartenverfassung geht?“
Das sprechen wir direkt in solchen Situationen an. Aber wir achten gleichzeitig darauf, dass keine Kinder oder Familien zugegen sind. Entweder können wir das in der Situation besprechen oder wir nehmen das mit in die nächst mögliche Team-Beratung.
Und bindet ihr in eure Selbstreflexion auch die Kinderperspektive ein?
Manja Hofmann: Die Perspektive der Kinder ist auch sehr wichtig für diesen Prozess. Es gibt die sehr schöne Studie „Achtung Kinderperspektiven“ (https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/fruehkindliche-bildung/projektnachrichten/achtung-kinderperspektiven-mit-kindern-kita-qualitaet-entwickeln), die ich wärmstens empfehlen kann. Dort hat die Bertelsmann Stiftung genau untersucht, wie Kinder im Vorschulalter in die Qualitätsentwicklungsprozesse einer Kita mit eingebunden werden können.
Diese Studie hat mich sehr bestärkt, dass es richtig und wichtig ist, Kinder auch im Vorschulalter ernst zu nehmen und dass das auch möglich ist. Es gab ja immer wieder Kritik – oder besser gesagt die Ungläubigkeit „Das kann ich mir nicht vorstellen, dass das möglich ist“. Da war die Studie für mich eine Bestätigung, dass sich unser Weg lohnt. In dem Material dazu gibt es eine Fülle an Methoden, um die Kinder in die Qualitätsentwicklungsprozesse mit einzubeziehen. Diese nutzen wir von Zeit zu Zeit immer wieder, um uns zu vergewissern.
Denn am Ende bemisst sich der Erfolg unserer Arbeit in Sachen „Beteiligung junger Menschen in der Kita“ ja nur daran, ob den Kindern ihre Rechte bewusst sind oder nicht. Wir können unseren Erfolg nicht daran messen, ob wir viel tun – etwa, ob wir viel an der Verfassung gearbeitet haben. Entscheidend ist, ob den Kindern die Verfassung klar ist und ob sie sie nutzen. Und das können wir als Pädagoginnen der Kita nur beschränkt einschätzen. Aus meiner Sicht sollte es auch immer fremde Personen geben, die die Situation beobachten. In unserem Verband überlegen wir deshalb gerade, ob wir über die verschiedenen Einrichtungen hinweg Strukturen schaffen können, durch die wir diese Beobachtungsaufgaben übernehmen können.
Welche Rolle spielen die Eltern bei der Qualitätsentwicklung?
Manja Hofmann: Die Perspektive der Eltern ist natürlich sehr wichtig. Zum Beispiel haben wir ein Format in der Einrichtung, dass sich „Ecken und Kanten“ nennt. Hier laden wir die Eltern abends ein und lassen sie dort den Alltag in der Kita durchschreiten. Anschließend geben sie uns ihre Rückmeldungen, ob wir von dem abweichend, was wir eigentlich erreichen wollten. Dazu braucht es Mut. Gleichzeitig ist es aber auch eine große Chance. So reden wir nicht nur darüber, dass wir als Gemeinschaft existieren. Wir wachsen und lernen tatsächlich als Gemeinschaft.

Wie hat sich das Verhältnis zwischen Kindern, Pädagog:innen und Familien dadurch verändert?
Manja Hofmann: Wir hatten schon immer einen sehr achtsamen und wertschätzenden Umgang miteinander. Aber, wie ich eingangs schon erwähnt habe, gab es eine Diskrepanz zwischen dem, was wir als unsere Aufgaben angesehen haben, und den Erwartungen der Eltern. Das wurde lange nicht angesprochen. Der Prozess hat uns wieder viel stärker mit den Eltern zusammengebracht. Es gab Räume, um über Erwartungen zu sprechen, und im Tun ein ganz anderes Bild von Gemeinschaft zu erzeugen.
Das hat uns eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Arbeit ermöglicht. Es hat Nähe geschaffen. Wir befinden uns in einem Kreislauf. Wenn wir Kinder und Familien tatsächlich mit einbeziehen, dann ist dies gleichzeitig die größtmögliche Einladung, das noch viel mehr zu tun. Kinder und Eltern können sich zeigen. Diese Sichtbarkeit bietet uns als Kita-Gemeinschaft wiederum die Möglichkeit, uns anzukoppeln an etwas, was wir sonst nie erfahren hätten. In Summe schafft das über eine so lange Zeit eine große Nähe und starke Verbundenheit. Mit dieser Verbundenheit sind wir die stärksten Vorbilder für das, was wir für ein demokratisches Miteinander brauchen. Nicht, weil wir permanent darüber erzählen, sondern weil wir es einfach tun. Das meine ich mit „Gemeinsam wachsen“ und „gemeinsam diese Nähe schaffen“.
Es braucht diese Strukturen und das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Regeln. Eine Kindergartenverfassung kann ein Instrument sein, weil sie eben die Grundordnung für ein Miteinander schaffen kann. Aber sie lebt natürlich von den Menschen, die sie umsetzen. Diese müssen unbedingt eine offene Haltung und die größte Achtsamkeit für die Gemeinschaft entwickeln. Das sollte in Summe dann diese enge Verbundenheit zum Ziel haben.
Welche Wirkung für Demokratie insgesamt kann es haben, wenn Kinder, Familien und Pädagog:innen eine so gelebte Demokratie in der Kita erfahren?
Manja Hofmann: Als erstes müssen wir verstehen, dass das, was wir tun, immer Demokratiebildung ist. Demokratiebildung ist nichts, was ich zusätzlich in unsere Arbeit bringe. Wir tun das. Schon immer. Das ist auch eine Frage der Bezüge und der Bewusstwerdung. Demokratiebildung ist der Kern unserer Arbeit. Es geht darum mit Blick auf den Einzelnen – sowohl Kinder, als auch Familien und auch Team – Räume zu schaffen, in denen alle gesehen und gefördert werden. Aber immer mit dem Ziel, alle in Gemeinschaft einzubinden. Wir sind als Team, mit den Kindern und den Familien eine Gemeinschaft.
Das bewusste Leben in Gemeinschaft lässt uns spüren, welche Stärke aus diesen Gemeinschaften heraus erwachsen können. Für jeden einzelnen. Aber auch für uns alle. Wie in Gemeinschaft das Bedürfnis nach Engagement gefördert werden kann. Wie Lösungen viel schneller und besser in Gemeinschaft gefunden werden können, als wenn ein Menschen oder ein kleines Team sie entwickeln muss. Ich habe den Eindruck, dass wir an der Vorstellung kranken, dass Lösungen von Einzelnen gefunden werden müssten. Wir haben Angst vor Heterogenität und Vielfalt. Wir sehen dort weniger die Stärke, die daraus für eine Gemeinschaft erwachsen kann, als etwas, was uns als Individuum beschränkt. Hier können wir umlernen, wenn wir Gemeinschaft anders erfahren. Diese Grundgesetzmäßigkeiten lassen sich auf große Gesellschaften übertragen. Auf die Stadt oder die Gemeinde, also die unmittelbare Umgebung. Aber auch auf unseren Staat.
Vielen Dank für das Gespräch!
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