Die KITAs in Chile stehen unter großem Druck: Die Erzieher*innen verdienen oft sehr wenig Geld und müssen mit geringen Ressourcen auskommen. Das liegt auch an dem stark neoliberal ausgerichteten Wirtschaftssystem. Doch genau das erzeugt auch viel Mut, Veränderungswille und Engagement. Ein Gespräch mit der chilenischen Bildungsreferentin Francisca Gallegos.
In Francisca Gallegos Leben spielt der Umweltschutz schon lange eine Rolle. Bereits in ihrer Schule hat sie sich dafür engagiert. Später gründete sie nach ihrem Studium der Geschichte und Geographie sowie Waldorfpädagogik einen Hof, um dort einen rundum öklogischen Lebensstil zu verwirklichen. Seit 2020 lebt sie in Deutschland und arbeitet als Referentin für das Programm Bildung trifft Entwicklung. Seit 2024 ergänzt sie das KITA-Team im Entwicklungspolitischen Informationszentrum Reutlingen (EPIZ) und berät KITAs zum Programm FaireKITA Baden-Württemberg.
Im März 2024 war Francisca Gallegos das letzte Mal in Chile und hat dort einige KITAs und Schulen besucht, um dort Workshops zu geben. Wir freuen uns, dass sie sich die Zeit nehmen konnte, um über die Arbeit von Erzieher:innen und den Alltag von Kitas in Chile zu berichten.
Du hast in Chile eine ganz besondere KITA besucht. Was macht sie so besonders?
Francisca Gallegos: Die KITA »Pequeños Pasitos« befindet sich in einem armen Stadtteil von Viña del Mar. Die Häuser befinden sich alle oben auf einem Berg und wurden von den Menschen selbst gebaut. Das ist ein bisschen wie die Favelas, die man aus Brasilien kennt. Und hier befindet sich ein Kindergarten, der deshalb so besonders ist , weil die Erzieher*innen so besonders mutig sind. Alle Materialien, die sie verwenden, sind recycelt. Sie kaufen kein neues Spielzeug. Sie kaufen kein neues Papier. Sie kaufen keine neuen Möbel. Alles, was sie haben, ist wieder verwertet. Holz, Spielzeug, Stoffe, Hefte, in die die Kinder schreiben können.
Der Garten der KITA ist so gestaltet, dass es eine Ecke für die Vögel gibt und einen für den Urwald und einen für das Gemüse. In dem Garten gibt es auch große Komposthaufen. Hier kommen ungekochte Essensreste aus der Kantine hin. Die Kinder schneiden dazu die Essensreste klein und können dann lernen, wie aus dem Abfall neue Erde entsteht. Die Erzieher*innen haben aus all dem eine pädagogische Arbeit entwickelt.
In dieser Kita gibt es ganz kleine Kinder ab drei Monaten bis hin zu großen Kindern. Sie alle haben einen Stundenplan, in dem es Zeiten für die Arbeit im Garten gibt – aber auch für das Engagement in der Nachbarschaft, der Gemeinschaft. Denn die Menschen sind sehr arm und diese KITA ist für alle da. Die Nachbar*innen kommen in die KITA und sehen zum Beispiel, was die Erzieher*innen dort mit den Kindern machen. Dann lernen sie alle zusammen. Zum Beispiel, wie man Sachen wieder verwenden kann.
In Chile haben wir zum Beispiel ein großes Problem mit dem Plastikmüll, weil es dort keine Mülltrennung gibt. Und diese KITA verwendet alles, was an Plastik anfällt, weiter. Sie haben zum Beispiel ein Sofa für die Kinder aus Plastik gemacht. Dazu nehmen sie Plastikflaschen und füllen ihren gesamten Plastikmüll dort hinein. Am Ende sind die Plastikflaschen so stark und fest, dass man damit alles mögliche bauen kann. Wir nennen das in Chile »eco ladrillos« – also Öko-Steine. Und mit diesen Steinen baut diese KITA ganz viel.
Außerdem ist die KITA mit kleinen Firmen aus der Umgebung vernetzt, die die Einrichtung mit Materialien, Werkzeug und ähnlichem unterstützen. So ist diese KITA eine kleine Insel in einem sehr schwierigen Stadtteil mit großer Armut. Das ist grandios. Die Erzieher*innen haben eine beeindruckende Klarheit. Sie wissen genau, was ihnen wichtig ist und was sie machen müssen. Das hat mich sehr inspiriert.
Wie bist du zur Bildung für Nachhaltige Entwicklung und zum Globalen Lernen gekommen?
Francisca Gallegos: Für mich war das zum einen ein innerer Ruf. Zum anderen ist Chile ein Land mit einem stark neoliberalen Wirtschaftssystem. Als ich heranwuchs, hat sich der Neoliberalismus bei uns gerade etabliert. Vieles, was zuvor frei war, wurde auf einmal privatisiert. Das war für mich ein Schock. Die Privatisierung hat dieses wunderschöne Land nach und nach kaputt gemacht. Es hat die Flüsse zerstört, das Meer. Alles war auf einmal verkauft. Das hat einen großen Druck erzeugt. Nicht nur in den Ökosystemen, sondern auch bei den Menschen. Ich habe mit erlebt, wie viele indigene Menschen ihr Land verlassen musste, wenn große Industriekonzerne es einfach gekauft haben.
All diese Ungerechtigkeiten, die ich erlebt habe, haben mich dazu gebracht, etwas anders machen zu wollen. Zu dieser Zeit war ich noch in der Schule. Dort geschah als Reaktion auf diese Entwicklungen nicht viel. Das offizielle Curriculum orientierte sich überhaupt nicht an der Realität im Land. Was wir in der Schule lernten, war abgetrennt von unserer Lebenswirklichkeit. Hier gab es kein Wasser mehr. Überall nur noch Plantagen mit riesigem Chemie-Einsatz. Keine Fische mehr im Meer – und Chile ist ein Land mit viel Küste und viel Meer. 1998 untersuchte ich in meiner Diplomarbeit, wie das Schulsystem mit der Umweltkrise umgeht. Die Untersuchung ergab, dass nur einige wenige Biologielehrer:innen etwas unternahmen, was aber für die bevorstehende große Krise nicht ausreichte.
Und so wollte ich als Lehrerin mit den Schüler*innen genau zu solchen Themen arbeiten. Je größer sie waren, desto mehr wollte ich ihnen zeigen, was schief läuft und wie es besser gehen kann. Aber nicht nur im Kopf, sondern tatsächlich im Handeln. Es war mir immer sehr wichtig, dass ich gemeinsam mit den Schüler*innen auch Handlungsmöglichkeiten entwickeln konnte. Alles, was die Schüler*innen lernen sollten, sollte mit einer konkreten Erfahrung verbunden sein. Zum Beispiel gingen die Schüler*innen erst einmal aus der Schule raus und machten etwas mit ihren Eltern oder mit Tieren oder in der Nachbarschaft mit sozialen Themen. Dann kamen sie mit den Inhalten ins Klassenzimmer zurück. Durch die Erfahrung ließ sich die kognitive Erkenntnis viel besser integrieren.
Mit dieser Idee arbeitete ich mit einer Schule zusammen, die ihren kompletten Lehrplan danach umstellte. Jedes Mal, wenn ich nach Chile zurückkomme, besuche ich diese Schule und sehe die tolle Entwicklung. Jeder Inhalt ist mit einer Handlung verbunden. Und diese Handlungen orientieren sich immer am Leben – also am Ökosystem, an der Biodiversität. Damit die Kinder lernen, wie sie etwas selbst machen können: Kleidung oder Lebensmittel. Sie müssen nicht alles kaufen. Sie sind nicht hundertprozentig von Geld abhängig.
Welche Rolle spielen Klima- und Umweltschutz in KITAS in Chile insgesamt?
Francisca Gallegos: Das Thema spielt in KITAs in Chile eine große Rolle. Es gibt sehr viele Weiterbildungen und Projekte in dieser Richtung. Doch diese Entwicklung kommt von unten. Sie entsteht aus dem Druck, den es in Chile durch das neoliberale System gibt. Viele Menschen sind dadurch aufgewacht und es gibt insgesamt in der Bevölkerung ein großes Bewusstsein für diese Probleme. Gleichzeitig gibt es die dunkle Seite von Chile, die sehr viel Geld und sehr viel Macht hat. Aber man spürt, dass es in Chile ein sehr großes Engagement gibt und sehr viel Mut, die Dinge zu verändern. Aber es ist schwer. Die Menschen müssen oft kämpfen. Und sie müssen es mit dem tun, was sie haben – und das ist nicht viel. Aber das ist in Ländern des globalen Südens immer so.
Was sind die größten Herausforderungen für KITAs in Chile?
Francisca Gallegos: Das sind – ähnlich wie in Deutschland – die vielen kleinen Verbote. Zum Beispiel beim Thema »Essen«. Das kommt meist von der Stadt und die Qualität ist in der Regel schrecklich. Zum Beispiel gibt es Fisch von weit her. Und die Qualität ist auch noch schlecht. Dabei ist das Essen sehr wichtig, denn viele Kinder sind sehr arm, und das Essen in den KITA in Chile ist ihre Hauptmahlzeit am Tag. Oft gibt es Fertiggerichte aus der Dose. Es gibt kaum frische Lebensmittel. Dann müssen die KITAs immer ganz viel wegschmeißen und sie fragen sich, was sie mit den Resten machen können.
Dazu kommen die mangelnden Ressourcen. Deshalb müssen die Erzieher*innen auch immer sehr kreativ sein. Und schließlich übt die Immobilienbranche einen großen Druck aus. Kurz bevor ich die KITA, die ich vorhin beschrieben habe, besucht habe, gab es in diesem Stadtteil einen großen Brand. Alle Häuser auf den Bergen sind abgebrannt. Nur diese KITA war wie eine Insel stehen geblieben.
Wie wird die Arbeit der Erzieher*innen in den KITAs in Chile geschätzt?
Francisca Gallegos: Sie wird nicht so hoch geschätzt. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass sie sehr schlecht bezahlt werden. Das sagt schon sehr viel. Die Träger stellen zudem meist nur ein oder zwei echte Erzieher*innen an. Der Rest der Belegschaft hat nicht diese Ausbildung. Das sind Menschen, die nur ein Jahr oder noch weniger Zeit in ihre Ausbildung investiert haben. Sie nennen sich »Technicas« in Chile. Es gibt in Deutschland keine vergleichbare Position.
Das kommt auch daher, dass die Universität in Chile sehr teuer ist. Um tatsächlich Erzieher*in zu sein, muss man fünf Jahre lang studieren. Es gibt auch kürzere Ausbildungen für die KITA, aber dann erhalten diese Menschen auch nur den Mindestlohn für ihre Arbeit. Und das bedeutet 500 Euro pro Monat – und zwar für eine volle Stelle. Das sagt viel darüber aus, wie die Leistung der Erzieher*innen in den KITAs in Chile eingeschätzt werden. Und dabei ist es ganz egal, ob es sich um einen staatlichen oder einen privaten Kindergarten handelt. Damit zusammen hängt auch, dass die meisten Erzieher*innen Frauen sind.
Aber die Mütter und Väter sind dankbar für die »tias«, wie sie in Chile genannt werden. Und für die tias ist es die Hauptsache, dass die Eltern sich immer mit einem Lächeln und einem großen Dankeschön verabschieden!
Gibt es ein Lied, ein Spiel oder ein Buch aus Chile, das du gerne teilen möchtest?
Francisca Gallegos: Ja, gerne. In Chile singen wir ganz viel. Und wir spielen auch viel. In den KITAs in Chile spielen die Menschen sehr oft im Kreis. Als ich zuletzt in Chile war, war ich in einer Bücherei und habe dort wunderschöne Geschichten über unsere Urvölker gefunden: »Die Saat« von Andrea Franco, erschienen im Verlag »Una casa de carton«.
In einer Geschichte wurde beschrieben, wie wichtig es ist, die Samen des Urwaldes zu sammeln, zu schützen und wieder auszusäen. Es wurde beschrieben, dass diese Völker die Samen sammeln, mitnehmen und dort aussähen, wo sie hingehen. So, wie die Vögel das auch tun. Das können wir auch mit den Kindern machen. Wir können uns mit ihnen auf die Suche nach Saatgut von uralten Pflanzenarten machen. Wir können diese Samen schützen. Auch vor dem Zugriff der großen Konzerne.
Gleichzeitig sind auch wir eine Art Samen. Wir alle haben eine besondere Information in uns. Wir müssen auch die Erde für uns bereiten, damit wir schöner wachsen können. Dieses Buch hat mich sehr inspiriert. Ich habe es übersetzen lassen und es bereits in einem Kindergarten in Deutschland erzählt. Die Kinder waren ganz fasziniert davon.
Was können wir von den Erzieher*innen in Chile lernen?
Francisca Gallegos: Den Mut. Alles, was diese Menschen in sich selbst an Umweltbewusstsein und an Bewusstsein für globale Gerechtigkeit entwickelt haben, bestimmt ihre Arbeit. Alles orientiert sich an diesem Bewusstsein. Das schafft eine besondere Klarheit. Wir können von ihnen lernen, dass wir alle auf einer Ebene sind. Wir alle spüren diesen Druck. Nicht nur durch den Klimawandel, sondern durch diese zivilisatorische Krise insgesamt: Die Eltern müssen arbeiten und deshalb ihre Kinder den ganzen Tag im Kindergarten lassen. Darunter leiden die Eltern. Und gleichzeitig leiden auch die Erzieher*innen, die für wenig Geld für viele Kinder verantwortlich sind. Doch diese Probleme können wir nur gemeinsam lösen. Die Menschen in Chile sind sehr offen dafür. Sie wollen gerne Kontakt zu KITAs in Deutschland aufnehmen und zusammen lernen, sich austauschen und wachsen. Das tut uns als Menschheit gut. Zu schauen: was können wir lernen? Der Dialog zwischen globalem Norden und Süden ist in diesem Moment sehr, sehr wichtig. Wir merken dann, dass wir das gleiche Ziel haben – und dass jede und jeder das auf seine Art verfolgen kann.
Vielen Dank für das Gespräch, liebe Francisca, und viel Erfolg für deine weitere Arbeit!
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