Portraitfoto von Odile Néri-Kaiser

Interview: Geschichten erzählen verbindet

Durch Geschichten erzählen lernen Kinder, wie sie anderen zuhören. Sie lernen, Verbindung aufzunehmen und Empathie zu entwickeln. Nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu Tieren, Pflanzen und der Natur insgesamt. Ein Gespräch mit der Geschichtenerzählerin und Conteuse Odile Néri-Kaiser – zum Hören und Lesen.

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Odile Néri-Kaiser ist professionelle Erzählerin und Conteuse. Geboren und aufgewachsen ist sie in Frankreich. Dort hat sie zunächst angewandte Linguistik studiert und von 1975 bis 1995 als Lehrerin an Brennpunkt-Gesamtschulen in den Vororten Lyons gearbeitet. Für ihre Schüler:innen hat sie das Geschichtenerzählen entdeckt. Nachdem sie mit Mann und Kindern nach Deutschland gezogen war, initiierte sie in Stuttgart zwei internationale interkulturelle Erzählfestivals und gründete den Verein »Ars Narrandi.e.V … wenn Worte wandern …«.

Seit über 15 Jahre hat sie für das Jugendamt Stuttgart Fortbildungen für Erzieher:innen im Bereich »Erzählen im interkulturellen Kontext in Kitas« gegeben. Nun liegt ihr Schwerpunkt bei der Frage, wie wir mit lebendig erzählten Geschichten Nachhaltigkeit in der Kita vermitteln können.

Wie sind Sie zum Geschichtenerzählen gekommen?

Odile Néri-Kaiser: Ich hatte das Glück, zuhause eine erzählende Mamie zu haben. Das war eigentlich nicht meine echte Großmutter, aber sie war wie eine Großmutter für mich. Sie hatte italienische Wurzeln, war also Migrantin. Und sie hat mich immer buchstäblich entführt: Ich besuchte sie immer in ihrem Garten, wo sie eine Werkstatt hatte, ein bisschen abgelegen und dunkel. Und hier hat sie mich auf den Schoß genommen und im Takt der Webstühle, die dort standen, erzählt. So hat sie in mir die Leidenschaft für persönlich erzählte Geschichten geweckt.

Ich habe immer viel gelesen. Aber das ist ein Spaß ganz anderer Natur. Eine Geschichte von den Lippen einer leibhaftigen Person zu hören, zu beobachten, wie sich ihr Gesicht verändert, der Blickkontakt, die Mimik, die Gestik, die Stimme mit ihren Höhen und Tiefen, die erholsamen oder geheimnisvollen Pausen – und wie sich die ganze Person im Laufe der Geschichte verwandelt … Da spielt die Freude an der Beziehung eine wichtige Rolle. Mit Mamie habe ich die Magie des gesprochenen Wortes unmittelbar erfahren, wenn es von Mensch zu Mensch authentisch vermittelt wird. Zuhörer:innen werden nicht nur mitgenommen auf eine Reise. Das können auch Bücher. Doch bei persönlich erzählten Geschichten gibt es eine ganz konkrete Person, die sagt: »Komm mit mir mit, wir gehen zusammen auf die Reise«.

Und das habe ich auch immer wieder bei anderen Menschen bemerkt, die mir erzählten: »Ach, die Geschichten selbst, die haben wir vergessen. Aber dieser Augenblick, in dem die Geschichte erzählt wurde, die bleibt in mir als eine Kostbarkeit!« Ja, wenn alle im gleichen Tempo atmen, als würde im Raum nur ein einziger gemeinsamer Atemzug sein, wenn alle denselben Traum haben, aber er für jede:n doch anders ist, das ist eine stille, tiefe Erfahrung der Gemeinschaft, die bleibt.

Wie wurde aus der Kindheitserfahrung ein Beruf?

Odile Néri-Kaiser: Als Lehrerin arbeitete ich an Brennpunktschulen. Ich hatte es mit Jugendlichen zu tun, die es nicht geschafft hatten, richtig Lesen und Schreiben zu lernen, obwohl sie bereits in der neunten Klasse waren. Ich habe mir damals den Kopf zerbrochen: Texte hatten hier gar keinen Sinn. Also habe ich Bücher vorgelesen und bin mit ihnen in die Stadtbücherei gegangen. Und irgendwann habe ich gemerkt: »Nein, ich muss etwas anderes finden«. Zufällig lernte ich damals eine Erzählerin kennen und lud sie in die Schule ein. Ich war vollkommen baff, wie die Jugendlichen auf sie reagierten. Innerhalb von wenigen Minuten waren sie von ihr und ihrer Erzählung fasziniert.

Ich habe mich dann von ihr ausbilden lassen. Oder eigentlich ging es darum, mich stärken zu lassen. Mamies Stimme und ihre Fähigkeit, mit Worten die Welt zu verzaubern, lebten noch in mir. Ich habe Geschichten gelernt und habe in der Klasse losgelegt. Das Ergebnis war, dass ich fast nur noch erzählt habe und die Schüler:innen erzählen liess. Darüber hinaus habe ich eine Methode entwickelt, wie man von der mündlichen zur schriftlichen Sprache kommt. Die Jugendlichen konnten so Schritt für Schritt mit der Schriftsprache vertraut werden. Dann trauten sie sich auch, sie zu benutzen. Das ist, denke ich, damals ganz gut gelungen. Ich habe später gehört, dass manche von ihnen sogar einen Wettbewerb für Poesie gewonnen haben.

Welche Rolle spielen Geschichten für kleine Menschen?

Odile Néri-Kaiser: Geschichten spielen für alle Menschen eine wichtige Rolle, weil sie Zusammenhänge herstellen und so Ordnung in der Vorstellungswelt schaffen. Das brauchen alle, nicht nur Kinder. Außerdem glaube ich, dass man auch bei Erwachsenen, wenn man ihnen Geschichten erzählt, das innere Kind hervorholt. Umgekehrt finde ich es wichtig, Kindern nicht unbedingt Geschichten zu erzählen, die als »Geschichten für kleine Kinder« abgestempelt werden. Man soll Kindern trauen und mehr zutrauen: sie werden vom Erzählfluss, vom narrativen Faden der Geschichte getragen und brauchen nicht jedes Wort zu verstehen.

Hören ist ein globales, nichtlineares Wahrnehmen, das alle anderen Sinne und Kapazitäten im Menschen aktiviert. Wir Erwachsene nehmen vieles nur über den Intellekt wahr. Dabei verlieren wir oft den Bezug zu unserer Ganzheitlichkeit. Das ist ein sehr wichtiger Punkt: unbewusst zwingen wir den Kindern unsere Wahrnehmung als Erwachsene auf. Das kann manchmal gut sein. Das kann aber auch ihre Kreativität, die Entwicklung einer eigenen Lernstrategie verhindern. Das Gute an gehörten Geschichten ist auch – anders als vor dem Bildschirm –, dass Kinder hören und mitnehmen, was sie brauchen. Wenn ich die Kinder nicht verkindliche, sondern wenn ich mich an sie als Menschen wende, dann fühlen sie sich anders ernst genommen und werden dadurch größer. Sie wachsen mit den gehörten Geschichten mit und ihre Sprache entwickelt sich mit diesem Impuls.

Das ist für Erzieher:innen sehr wichtig. Oft glauben sie, sie müssten für kleine Kinder mit einer ganz hohen Stimme reden und alles klein und niedlich machen. Doch erstens erleben Kinder heutzutage so viele schwierige Dinge, dass wir sie nicht mehr in so einer heilen Welt, in der alles rosarot ist, erziehen können. Zweitens begleiten gute Geschichten sie im Leben. Damit meine ich Geschichten, die die Schwierigkeiten oder Hürden des Lebens so ansprechen, dass sie immer eine Öffnung anbieten – eine Hoffnung und Lösungsmöglichkeit. Diese zu finden ist eine Kunst, damit sie nicht einfach aufgesetzt und künstlich ist. Kinder spüren das sofort und glauben uns dann nicht wirklich. Diese Geschichten (es können Märchen aus aller Welt sein aber nicht nur ) sind für sie eine Stütze, die sehr wichtig ist.

Welche Tipps zum Geschichten erzählen haben Sie?

Odile Néri-Kaiser: Der erste Tipp ist, dass Erzieher:innen überhaupt erzählte Geschichten lieben müssen. Und dass sie die Geschichte, die sie erzählen möchten, auch selbst lieben. Wichtig ist zum Beispiel, dass Erzieher:innen nicht sofort überlegen, wie sie ihre Geschichten pädagogisch nutzen können. Geschichten rebellieren, wenn sie benutzt werden. Dann machen Kinder – und auch Menschen überhaupt – zu, weil sie den Eindruck haben, dass man sie belehren will. Die Geschichten sollten eher wie Lieder sein oder wie Liebeserklärungen, wie Gedichte. Sie wollen aus irgendeinem Grund herauskommen. Und wenn sie auf einen fruchtbaren Boden fallen, dann können sie sich entwickeln. Die meisten Menschen machen diese Erfahrung, wenn sie merken, dass andere ihnen zuhören. Also der erste Schritt ist – in der Kita wie in der Familie –, dass man ein Gefühl und ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass man gerne erzählt, wenn zugehört wird. Sowie ich dir gerne zuhöre, wenn du mir etwas aus dem Herzen heraus erzählst.

Es gibt grob für mich zwei unterschiedlichen Erzählqualitäten, die an unterschiedlichen Momenten stattfinden, aber im Endeffekt einander bereichern: Es gibt das Erzählen,das das alltägliche Leben begleitet. Dafür gibt es keine spezielle Zeit. Wir erzählen ständig. Man erzählt im Kindergarten beim Spazierengehen, beim Essen, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Man kann zu jeder Gelegenheit erzählen: wenn ein Kind in einer Ecke sitzt und weint, kann man hingehen und sagen: »Oh, was ist denn das? Das sind ja so kleine Wasserperlen, die aus deinen Augen kommen. Weißt du, wohin sie fließen? Zu wem vielleicht? …«.

Oder man kann sagen: »Wisst ihr noch gestern, als Jonas in den Kindergarten gekommen ist, hat er sich so gefreut. Warum? Weil die Oma dabei war. Und über seine Oma möchte Jonas uns jetzt etwas erzählen …«. Wer achtsam im Leben ist, findet viele Möglichkeiten, um spontan etwas zu erzählen, das Menschen Gutes tun kann. So kann man auch aus schlechten Geschichten gute Geschichten machen. Wenn irgendetwas Unangenehmes – ein Konflikt oder ein Kummer – sich zeigen, können Erzieher:innen das auffangen und versuchen, am Besten mit dem betroffenen Kind oder mit allen in einer Geschichte zum Positiven verwandeln. Das ist eine ständige Suche nach neuen und kreativen Lösungen in der Beziehung zum Kind.

Aber es gibt auch den wichtigen Moment, wo die Erzieher:innen entscheiden: »Jetzt ist Zeit und Raum für besondere Geschichten«. Es ist eine Zeit der Entstressung, wo Zuhören von Stille und Konzentration begleitet werden. Die Erzählsprache ist nicht künstlich, aber bewusster ausgewählt, vor allem was die Sprachbilder betrifft. Diese Erzählstunde sollte mit einem Ritual eröffnet werden. Das kann eine Handlung sein, ein Zauberspruch oder einfach, dass man das Licht ausmacht. Wichtig ist, dass die Erzieher:innen es wiederholen, ganz ruhig. Die Kinder verstehen, dass sie dann eine kostbare, besondere Welt – die Welt der Geschichten – betreten.

Die Fähigkeit, spontan Geschichten zu finden und zu erzählen, können wir in allen Situationen üben. Aber für die besonderen Geschichten der Erzählstunde sollten die Erzieher:innen sich besonders vorbereiten. Sie sollten sich überlegen, welche Geschichten sie heute erzählen wollen und wie sie sie erzählen wollen, sodass innere Bilder in den Köpfen und Herzen der Kinder entstehen können.

Also geht es auch darum, Kinder zum Geschichten erzählen einzuladen?

Odile Néri-Kaiser: Ja,Kinder erzählen sehr gerne, wenn sie sich harmonisch und normal entwickeln und kein Trauma ihnen ihre Stimme weggenommen hat. Dann erzählen Kinder von sich aus. Sie erzählen anders als Erwachsene, weil sie noch nicht über eine so differenzierte Sprache verfügen wie Erwachsene. Dafür erzählen sie vielleicht lebendiger oder einfach anders. Die Erzählart der Kinder sollten wir viel mehr und bewusster beobachten und ernst nehmen. Kinder erzählen für uns viel emotionaler, aber auch so, wie sie sich eben die Welt aneignen – oder wie die Welt zu ihnen kommt. Sie erzählen manchmal noch nicht mit Worten, sondern mit Lauten und kleinen Soundeffekten, mit Bewegung, mit Gebärden, mit Gestik und Mimik, die zusammenspielen. Manche spielen oder tanzen ihre Geschichten. Das alles ist Geschichten erzählen und sollte als solches auch wertgeschätzt und unterstützt werden.

Die Schule trennt meistens in Fächern. Im Kindergarten haben wir dieses Glück, das wir wissen: Farben, Laute, Gerüche, Gefühle, Bewegung – das alle gehört zusammen. Und die Geschichten sind kleine,verdichtete Lebensabschnitte. Die Sprache entwickelt sich dann nach und nach. Aber die Kompetenz, einzelne Elemente des Lebens miteinander zu verknüpfen, Zusammenhänge herzustellen – das steckt hinter der Fähigkeit des Geschichtenerzählens.

Odile Néri-Kaiser sitzt in einem Kreis von Menschen und erzählt.
Odile Néri-Kaiser erzählt Geschichten im Senegal.

Kann das Geschichten erzählen Menschen unterschiedlicher Kulturen verbinden?

Odile Néri-Kaiser: Sprache kann Menschen zusammenbringen oder trennen. Beides ist möglich. Deswegen ist es eine sehr komplizierte Sache, Menschen unterschiedlicher Kulturen durch Geschichten zusammenzubringen. Es braucht viel Überlegung, Feingefühl und vor allem Erfahrung. Ein Wort, das bei mir eine positive Assoziation weckt, kann bei jemand anderem eine negative Wirkung haben. Jeder Mensch, auch wenn er sich dieselbe Sache anschaut, sieht und interpretiert etwas anderes als sein Nachbar.

Kinder schon ganz früh damit vertraut zu machen, dass sie eine Geschichte so verstehen – aber jemand anderes versteht sie ganz anders – ist eine Vor-Sensiblisierung für die Kompetenz, unterschiedliche Meinungen, Interpretationen und Geschichten, also Vielfalt und Relativität zuzulassen. Es gibt nicht eine Interpretation, eine richtige Geschichte und alle anderen seien falsch. Außerdem können wir, wenn wir verschiedene Geschichten aus unterschiedlichen Kulturen hören, auch genau schauen, was diese auch gemeinsam haben. Bei Märchen ist es beispielsweise faszinierend, die zahlreichen unterschiedlichen Fassungen kennenzulernen.

Wir sind meistens dazu erzogen worden, die Unterschiede eher zu erkennen, als die Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede deuten wir dann in unserem eigenen Wertesystem und betrachten das Andere als exotische Besonderheit. Was Gemeinsam ist, wird oft als selbstverständlich und banal empfunden. Doch wir können unseren Blick ändern und sagen: »Wow, das ist super! Da haben wir etwas Ähnliches erlebt oder erfahren. Das haben wir als Mensch gemeinsam. Darauf können wir aufbauen«. Gemeinschaft und Gemeinwohl sind in unserer Gesellschaft neu zu erfinden.

Geschichten erzählen und zuhören gehören also zusammen?

Odile Néri-Kaiser: Ja, Erzählen trainiert auch das Zuhören. Und indem wir zuhören, trainieren wir unsere Fähigkeit zu Erzählen. Auch beim Erzählen höre ich übrigens zu: ich höre, was drumherum passiert, aber ich höre auch, was hinter den Worten steckt, was meine Worte bei den Zuhörer:innen hervorrufen.

Dieses Training dient der allgemeinen Verständigung. Denn sehr oft hören wir gar nicht so richtig zu. Wir hören nur, was wir hören wollen. Es braucht Bereitschaft und auch Übung, um alles mitzubekommen, was andere uns mitteilen. Es ist ein Training des Mitgefühls oder der Empathie. Wenn du mir erzählst, warum du nach Deutschland gekommen bist, und ich höre genau zu, dann bekomme ich mit, wann deine Stimme eng wird, weil da etwas trauriges passiert ist. Oder ich werde mit dir Begeisterung empfinden, wenn du Glück im neuen Land erfahren hast.

Man kann so in Extremfällen sogar Konflikte lösen: Du erzählst mir diese Geschichte. Ich habe dazu eine ganz andere Geschichte. Aber wo können unsere mit unseren zwei Geschichten aneinander anknüpfen? Dann erfinden wir eine dritte Geschichte, die alle beide Geschichten zusammenhält. Das ist eine Kunst. Hinter dieser Kunst muss ein Wille stehen und trainiert werden: Wie bringe ich alle die unterschiedlichen Geschichten zusammen, sodass daraus eine noch stärkere Geschichte entsteht?

Gibt es unterschiedliche Erzählkulturen?

Odile Néri-Kaiser: Ja. Mündlichkeit kam vor der Schrift und in jeder Kultur entwickelte sich diese anders. Heutzutage werden alle mündlichen Erzählkulturen von der Schrift oder von den neuen Medien bedroht oder zurückgedrängt. Obwohl vielleicht gerade überall mit den neuen Medien eine andere Art der mündlichen Kommunikation entsteht. Aber es ist noch längst keine Kultur. In manchen Kulturen, wie zum Beispiel in Westafrika, war die mündliche Erzählkultur eine Hochkultur mit sehr starken ethischen Komponenten. Sie ist bedroht, hat aber sehr wichtige Spuren hinterlassen, einen Schatz an Geschichten und eine ethische Haltung für die Gemeinschaft. In Frankreich war die mündliche Erzählkultur einerseits die Sprache der kleinen Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten. Also auch die Sprache des Widerstandes gegen die zentrale Macht. Aber es gab auch die Troubadours für den Hof. Auch im Orient gab und gibt es eine rege mündliche Kultur und Tradition.

Die Kenntnisse dieser Erzählkulturen verschafft uns einen besonderen Zugang zu den Menschen, die aus ihnen kommen. Kinder, die aus Westafrika oder aus Syrien kommen, hören und verstehen das Gehörte anders als deutsche Kinder. Sie haben ein besseres Gedächtnis. Sie erinnern sich viel besser. Und sie brauchen dafür weniger visuelle Gedankenstützen. Wer sich im Geschichtenerzählen übt, kann durch den Kontext, der im Erzählfluss entsteht, aus drei Steinen zum Beispiel drei Schweinchen machen … so stark ist die narrative Kompetenz. Sie öffnet die Türen der Kreativität.

Das Training der mündlichen narrativen Kompetenz stärkt viele andere Kompetenzen der Menschen. Darunter solche, die wir heute verloren haben. Ich bin überzeugt, dass wir sie uns über die Mündlichkeit wieder aneignen können. Und dass sie uns dabei helfen, die Zukunft zu bewältigen. Denn für eine nachhaltige Transformation müssen wir uns als Mensch ändern.

Die unterschiedlichen Sprachen bedingen auch die Besonderheit des mündlichen Erzählens. Sie hören das bei mir: ich binde alle Wörter, weil ich Französin bin. Als ich nach Deutschland kam, musste ich erst einmal lernen, die deutschen Konsonanten richtig und im Takt zu sprechen. Das ist ein anderer Klang. Jede Sprache hat eine andere Musik. Englisch sprechende Menschen können viel besser auf Deutsch erzählen, als FranzösIsch Sprechende. Und umgekehrt. Französisch betont die Worte auf der letzten Silbe. Die Deutschen auf der ersten. Der unterschiedliche Rhythmus der Sprachen war am Anfang schwierig für mich. Da kam ich manchmal aus dem Erzählfluss. Aber genau das ist auch spannend. Es ist spannend zu merken: Aha, in Italienisch, Russisch, Arabisch … überall gibt es ganz andere Laute. Die türkischen Kinder hören zum Beispiel Töne und Laute, die Deutsche nicht hören können, weil es hier diese Laute nicht gibt.

Die Gesetze der Mündlichkeit sind jedoch überall gleich. Auch wenn die Sprache einen anderen Klang und einen anderen Rhythmus hat, entsteht beim Erzählen immer ein bestimmter Erzähltakt. Es ist eine besondere Melodie, eine allen Kulturen gemeinsame Grundmelodie der Erzählens. Man weiß, dass eine Person gerade etwas erzählt – auch wenn man nichts versteht. Dazu muss ich eine Anekdote erzählen: Ich erzählte vor ein paar Jahren jede Woche einmal in einer Vorbereitungsklasse für geflüchtete Kinder. Aber obwohl die Kinder kein Deutsch konnten, begannen sie nach zwei- oder dreimal meine Geschichte zu rhythmisieren, indem sie ihre Hände im Takt bewegten. Der Lehrer mahnte: »Bleibt ruhig und hört zu«. Aber ich entgegnete: »Nein, bitte! Sie sind dabei zuzuhören. Sie sind dabei sogar mitzuerzählen!«.

Das Zuhören und das Erzählen gehen nämlich durch den ganzen Körper. Nicht nur durch den Kopf. Das ist etwas, was Erzieher:innen auch wissen müssen. Man braucht keine Angst haben, dass die Kinder dieses oder jenes Wort nicht verstehen. Durch den Kontext und die Melodie der Sprache können sie sich langsam den Sinn erschließen. Vielleicht verstehen sie nicht alles mit dem Verstand. Aber sie begreifen. Ich habe persönlich nie erlebt, dass ausländische Kinder nicht mehr zugehört haben. Vor allem in der Gemeinschaft. Sie trägt. Wenn sie sich in der Gruppe aufgehoben fühlen, nehmen sie die Worte wie eine beruhigende Musik auf. Es ist die Grundlage dafür, dass sie sich für die Sprache öffnen.

Heutzutage wird immer weniger einfach nur erzählt. Kinder klagen über ihre Eltern, weil sie ständig am Handy sind und nicht mehr zuhören. Man hat dafür keine Zeit mehr. Was dabei zu kurz kommt, ist die zwischenmenschliche Beziehung. Wer einfach etwas erzählt – ohne Kamishibai, ohne Computer, ohne Bücher – bringt den Menschen wieder ins Zentrum der Kommunikation.

Lesetipps zum Thema

Auf KITA-GLOBAL finden Sie einige Beiträge zum Thema »Geschichten erzählen«. Hier eine Auswahl:

1. Geschichten erzählen mit Kindern: Vor der Haustür die Welt. Susanne Brandt von der Büchereizentrale Schleswig-Holstein zeigt in diesem Material, wie Geschichten erzählen mit Kinder geht. https://kita-global.de/geschichten-erzaehlen-mit-kindern-vor-der-haustuer-die-welt

2. Der faire Geschichtenbüdel. Spielen, Geschichten erzählen und sich über globale Gerechtigkeit Gedanken machen. Das alles verspricht der „Faire Geschichtenbüdel“ von der Initiative „Nachhaltig erzählen“. Ein Projekt-Portrait mit Praxistipps. https://kita-global.de/der-faire-geschichtenbuedel

3. Zukunftsgeschichten gestalten. Wie kann ich Geschichten erzählen? In dieser Materialsammlung vom EPiZ Reutlingen finden Sie jede Menge Ideen, Inspirationen und Unterstützung. https://kita-global.de/zukunftsgeschichten-gestalten/

Wie können wir durch Geschichten erzählen die Verbindung zur Natur stärken?

Odile Néri-Kaiser: Das ist eine wichtige Frage. Doch was ist Geschichten erzählen? Beim Geschichten erzählen geht darum, einen Bezug herzustellen. Ich schaue mir zum Beispiel diese wunderschöne Pflanze an und sie wird für mich lebendig. Ich frage sie: »Fühlst du dich hier wohl? Sollte ich dich in ein anderes Zimmer stellen? Woher kommst du? Wer hat Dich mir geschenkt?« Die Natur und die Elemente kommen über die Geschichten in unsere Vorstellungswelt und unsere Sprache.

In allen Kulturen der Welt findet man einen Schatz an Naturgeschichten, Märchen und Sagen. Einfach aus dem Grund, weil sich die Menschheit in der Natur entwickelt haben. Die Natur war beseelt, sie lebte und sprach und die Menschen bemühten sich, ihre Sprache zu verstehen und zu deuten. Wer diese Verbindung zur Natur wieder erfahren möchte, muss aber auch die Stille und die innere Ruhe erfahren. Wie kann man Bäume sprechen oder einen Bach rauschen hören, wenn man ständig beschäftigt ist?

Das Geschichtenerzählen bringt die Kinder hingegen wieder nach innen. Nicht nur weil zuhören entstresst. Sondern auch, weil sie ein Gefühl für ihre innere Welt, für ihren Atem und ihre inneren Bilder bekommen. Für das, was dieses innere Leben ist. Und dieses innere Leben ist das, was uns mit der Natur verbindet. In unserem Inneren treten wir in Verbindung mit dem, was in uns lebt, atmet, fließt und wächst.

Geschichten und Märchen lassen die Bäume, die Steine, die Felsen wieder sprechen. Die Elemente übernehmen wichtige Funktionen: der Wind trägt, das Feuer vernichtet oder wärmt. Die Natur ist ein Schauspiel, von dem die Geschichten berichten. Man kann es Zauber nennen oder Poesie! Es ist ein Wunder, wenn eine Pflanze wächst oder sich eine Blüte öffnet. Wenn ein Kind dieses Gefühl in seinen Körper aufnehmen kann, die Resonanz der Natur in seinem Körper über die Geschichte und deren Sprachbilder erfährt, dann wächst diese Verbindung. Das habe ich bei Jugendlichen erfahren, die in der Stadt lebten und Bäume überhaupt nicht wahrnahmen. Nachdem ich ihnen ein paar Monate lang Baumgeschichten erzählt hatte, haben sie gesagt »Bäume sind Lebewesen!«. Und ich antwortete: »Ja, genauso wie du. Er lebt nur anders«. Dieses Bewusstsein müssen wir wiederbeleben. Das Bewusstsein, dass alles um uns herum lebt und spricht und in Beziehung untereinander und zu uns steht. Vom ganz klitzekleinen Element bis hin zum ganz großen Kosmos. Wir sind Teil davon.

Was ist Ihre Einladung oder Ihr Appell an Erzieher:innen?

Odile Néri-Kaiser: Stille und Ruhe finden und ausstrahlen. Heutzutage ist dies das Schwierigste und zugleich Kostbarste! Beides ist notwendig, um Kindern zuzuhören. Und, um einen wertschätzenden Raum für Geschichten und ihre nachhaltige Wirkung zu sichern.

So können sie aufmerksam sein, wann, wie und wo ihre Kinder am liebsten erzählen. Einfach nur die Kinder beobachten und zuhören. Die Redewendungen der Kinder wahrnehmen, die Sprachbilder, die Kinder benutzen. Wie drücken sich Kinder aus? Welche Assoziationen kommen ihnen? Das habe ich jahrelang gemacht. Kinder sind Meister in der Kunst, das Leben in den Worten wiederzufinden oder zu neu entdecken. Das haben wir Erwachsene oft verloren. Also Kinder zuhören! So können wir Erwachsene besser mit der inneren Kinderwelt anknüpfen. Erzieher:innen werden feststellen, dass sie so die Brücke zur Märchenwelt ganz leicht herstellen können. Andersrum können die Märchen uns helfen, Kinder besser zu verstehen.

Als zweites sollen sie erzählen, so viel sie können. Bücher lassen sich als Anregung benutzen. Aber mündliches Geschichten erzählen bevorzuge ich. Geschichten erzählen beim Spazierengehen, sie laut sprechen. Schlafen Sie mit Geschichten ein. Träumen Sie Geschichten. So werden diese richtig lebendig und finden einen Platz in Ihrem Leben finden. Ganz natürlich werden sie dann zu den Kindern kommen. Erfahrungen machen, daraus lernen. nicht aufgeben. Scheitern ist wichtig,daraus können wir viel lernen!

Ich wünsche Ihnen, dass Sie das Vertrauen gewinnen, dass Sie – wie alle Menschen – über einen Schatz an Geschichten verfügen. Aus der eigenen Kindheit, dem eigenen Leben, indem sie andere Menschen genau beobachten und ihnen zuhören. Oder in der Natur. Diese Geschichten wollen entdeckt werden. Das hat mit Liebe zum Leben zu tun und zu sich selbst. Und Kinder brauchen Menschen, die sich selbst und das Leben lieben. Das ist das, was sie mit ihren Geschichten vermitteln. Das ist das, was Kinder aber auch in der Art Weise spüren, wie sie erzählen.

Liebe Frau Néri-Kaiser, wir wünschen Ihnen viel Erfolg und Freude weiterhin beim Geschichten erzählen. Und wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch!


Über Odile Néri-Kaiser


Odile Néri-Kaiser ist seit 30 Jahren als professionelle Erzählerin unterwegs. Vor allem ihre Begegnungen mit afrikanischen Erzähler:innen haben sie stark geprägt. Bereichert haben sie die Weisheiten von Amadou Hampâté Bâ, des malischen Ethnologen, wunderbaren Erzählers und Schriftstellers. Von Agnes Chavanon (AMAC) lernte sie als Lehrerin an Brennpunktschulen »Colleges« der Lyoner Banlieue das Geschichtenerzählen, die sie dann als Lehrerin in eine pädagogische Methode umwandelte. Als sie mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Deutschland zog, initiierte sie gemeinsames Erzählen zur Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit zwischen französischen und deutschen Kriegsveteranen. Die Initiative erhielt dafür 1999 einen UNO Friedenspreis. Sie führte zahlreiche Erzählwerkstätten durch. »Alle meine Projekte haben die Wertschätzung des Lebens und des Lebendigen als Motiv. Sie schlagen den Bogen zu heutigen Themen, Brücken zwischen Generationen und Kulturen, zwischen Geschichten von gestern und heute«, schreibt sie auf ihrer Website.